Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Unsere Verfassung

Unsere Verfassung ist in einer schlechten Verfassung. Denn nach landläufiger Meinung kann jeder Mensch, aber auch Behörden und Politiker selbst entscheiden; ob und in welchem Umfang diese Anwendung findet. Wie anders ist zu erklären, dass der Artikel 3 Absatz 3 Satz 2:

 "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"

so wenig Berücksichtigung findet? Nach wie vor werden viele behinderte Menschen, die ihre gesetzlich verbürgten Rechte auf Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen müssen, nach Herzenslust betrogen, belogen, genötigt. Der Katalog lässt sich beim Blättern im Strafgesetzbuch noch erweitern. Doch nichts dergleichen ist strafbewehrt. Staatsanwaltschaften verweisen auf die Sozial-Gesetzgebung, obgleich ihnen klar gemacht wurde, dass kein Mensch in seiner Notlage die Zeit bis zur rechtskräftigen Gerichtsentscheidung überleben kann. Bis dann sind die meisten bereits in Behindertenanstalten verschwunden.

Dabei hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen." (Bundesverfassungsgericht am 10.10.2014 Randnumer 5 Az.: 1 BvR 856/13)

Diese war auch keine einmalige Entscheidung. So oder ähnlich urteilen unsere Verfassungswächter seit Jahren. Und die Entscheidungen haben Gesetzescharakter. Sie binden alle drei Staatsgewalten (§ 31 BVerfGG).

Auch mit einem anderen Beschluss blieb das Bundesverfassungsgericht dieser Ansicht zur Vergleichbarkeit treu. In den Absätzen 35 und 36 finden sich folgende Festlegungen: "Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen. Untersagt sind auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil führen. Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Untersagt sind alle Ungleichbehandlungen, die für Menschen mit Behinderungen zu einem Nachteil führen. Erfasst werden auch mittelbare Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beinhaltet außer einem Benachteiligungsverbot auch einen Förderauftrag. Er vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten. In der Literatur wird Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Paradigmenwechsel entnommen: Der tradierte sozialstaatlich-rehabilitative Umgang mit behinderten Menschen durch Fürsorge, die das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trage, werde durch einen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung ersetzt. Es werde nicht nur die benachteiligte Minderheit angesprochen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft in die Verantwortung genommen " (Bundesverfassungsgericht vom 30.01.2020, Az,: 2 BvR 1005/18) Auch zur Wirksamkeit der Behindertenrechtskonvention (BRK) nahm das Bundesverfassunggericht in dieser Entscheidung Stellung (Absätze 39 und 40). Insgesamt ist der Beschluss ab Absatz 28 sehr interessant zu lesen.

Fachgerichte haben sich diese Interpretation zu eigen gemacht und weiterentwickelt. "Der Teilhabebedarf besteht im Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile; maßgebliche Vergleichsgruppe ist der nichtbehinderte und nicht sozialhilfebedürftige Mensch vergleichbaren Alters." (Landessozialgericht Baden Württemberg vom 14.04.2016, Az.: L 7 SO 1119/10)

Und das gleiche Gericht  "Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es,  den behinderten Menschen durch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach Möglichkeit einem Nichtbehinderten gleichzustellen; der Bedürftige soll die Hilfen finden, die es ihm – durch Ausräumen behinderungsbedingter Hindernisse und Erschwernisse – ermöglichen, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben." und: "Hinsichtlich der Eingliederungshilfeleistungen für wesentlich Behinderte – wie die Klägerin – im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII besteht kein behördliches Ermessen, sondern ein Anspruch des wesentlich Behinderten." (Landessozialgericht Baden Württemberg am 22.02.2018 (L7 SO 3516/14)

Ansonsten ging es in dem Verfahren darum, dass der Kostenträger der Auffassung war, dass "... bei der bei der Klägerin bestehenden Beeinträchtigung ohne weitere Einschränkung möglich sei, eine adäquate Einrichtung, auch in Freiburg bzw. der näheren Umgebung, zu finden." Eine solche pauschale Aussage ist unzureichend. Es bedarf einer klaren Adresse, wo eine geeignete und zumutbare Einrichtung im Sinne der obigen Zitate zur Verfügung steht.  

Bereits 2017 schloss sich das Bundessozialgericht in einer KFZ-Angelegenheit dieser Interpretation der Vergleichbarkeit an: "Wege, die der Kläger mit dem Kfz zurücklegen will, sind damit nur dann für die Beurteilung der Notwendigkeit der Nutzung eines Kfz unbeachtlich, wenn es sich um Wünsche handelt, deren Verwirklichung in der Vergleichsgruppe der nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen in der gleichen Altersgruppe als unangemessen gelten (etwa wegen der damit regelmäßig verbundenen Kosten) und die damit der Teilhabe nicht dienen können; insoweit bestimmen nicht die Vorstellungen des Beklagten und der Beigeladenen oder des Gerichts die Reichweite und Häufigkeit der Teilhabe des behinderten Menschen.".(Bundessozialgericht am 08.03.2017 Az.: B 8 SO 2/16 R Randnummer 23:)

Das Bundessozialgericht nimmt Bezug auf seine frühere Entscheidung vom 12.12.2013 mit dem Az. B 8 SO 18/12 R und weist auf die Randnummer 16 hin.

Artikel 3 GG ist ein Grundrecht. Hierzu steht im Artikel 1 Absatz 3 GG:  "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."

Dieses unmittelbar geltende Recht, das Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden soll, wird also mindestens von der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt in unschöner Regelmäßigkeit gebrochen. Lediglich in der Rechtsprechung ist es im zunehmenden Maße erkennbar. Solange es dieser unserer Gesellschaft egal ist, solange macht die Verwaltung und die Gesetzgebung weiterhin, was sie jahrzehntelang geübt hat. Sie sondert uns aus. Sie verwehrt uns den Status des Menschen unter Menschen!

Für uns behinderte Menschen besonders interessante Grundrechte:

Artikel 1 Würde. Menschenrechte, Bindungswirkung
Artikel 2 Freie Entfaltung der Persönlichkeit
Artikel 3 Gleichstellung
Artikel 4 Freie Religionsausübung, Kein Kriegsdienst
Artikel 6 Schutz von Ehe und Familie
Artikel 11 Freizügigkeit
Artikel 13 Unverletzlichkeit der Wohnung
Artikel 14 Eigentum und Erbrecht

Nochmal zum Einprägen.

Artikel 1 Absatz 3 GG:  "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es zum Umgang mit diesem Thema drei Möglichkeiten gibt. Die erste scheidet aus, denn wer will schon der Verfassung widersprechen? Die zweite ist, das Thema gänzlich zu ignorieren. Diese Haltung wurde in den letzten fünf Jahren von Vielen praktiziert, ohne dass Gründe hierfür genannt wurden. Die dritte Möglichkeit praktiziert ForseA seit vielen Jahren. Wir müssen versuchen, dem Grundgesetz Geltung zu verschaffen und alle Bestrebungen bekämpfen, die uns weismachen wollen, dass das Grundgesetz bestenfalls zum Pausenbroteinwickeln taugt. Alle, die 2014 erklärten, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht anzuwenden sei, weil die Beschwerde damals abgelehnt wurde, sollten es nun besser wissen.

Ist es mit dieser Verfassung noch vereinbar, dass Menschen mit Assistenzbedarf

  • Einkommen und Vermögen weggenommen werden?
  • vorgeschrieben wird, wie sie zu leben haben?
  • und ohne oder mit unzureichender Erwerbsbiografie mit der Grundsicherung abgespeist werden?

Wir sind der Überzeugung: Nein! Es sind anscheinend zwei Paar Stiefel: Etwas selbstverständliches in schöne Sätze zu packen und es dann auch noch in Gesetzesform zu gießen. Und solange man es den Benachteiligten ausreden kann, diese Umsetzung in die Praxis einzufordern, so lange sind hehre Worte kostenfrei.

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