Es war Heilig Abend. Ein wichtiger Tag für Christbaumkugeln, Strohengel und -sterne und alle anderen schöne Dinge, welche die meiste Zeit des Jahres in irgendwelchen dunklen Kellern oder auf staubigen Dachböden in ihren Kartons vom Weihnachtsfest träumen. Nur wenige Tage im Jahr dürfen sie aus ihren Verstecken heraus und ihren Zweck erfüllen. Wurden sie doch geschaffen, kleine und große Menschen zu erfreuen.
In einem Wohnzimmer, irgendwo auf der Welt, wurden die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest getroffen. Der Vater schmückte mit seinen Töchtern Lisa und Lena den Weihnachtsbaum. Im Radio sang ein Kinderchor „Oh du fröhliche". Die Mutter kümmerte sich in der Küche um den Gänsebraten. Der köstliche Duft zog bereits durch das ganze Haus. Timmy, der kleine Bruder, hielt seinen Mittagsschlaf.
Immer prächtiger wurde der Baum. Rote und goldene Kugeln glitzerten um die Wette, Engelchen und Schleifen zierten die Äste. Doch halt, was war das? In einer Schachtel lag noch eine kleine, goldene Kugel ohne Aufhänger. Wo ist denn der geblieben? Ach ja, er ist wohl im letzten Jahr beim Aufräumen abhanden gekommen. „Tja", meinte der Vater: „dann muss es dieses Jahr ohne diese eine Kugel gehen. Der Baum ist schon so prächtig, da fällt es gar nicht auf, dass eine fehlt". Als die kleine Kugel das hörte, wurde sie ganz traurig. Sie hatte sich das ganze Jahr auf die Weihnachtszeit gefreut. Und jetzt sollte sie einsam und allein in ihrer dunklen Schachtel im kalten Keller liegen, während ihre Brüder und Schwestern um die Wette mit den Augen der Kinder funkeln dürfen. Wer weiß, ob sie nicht auch im nächsten Jahr wieder verschmäht wird, weil die großen Menschen vergessen haben, ihr einen neuen Aufhänger zu besorgen.
Während sie ihren trüben Gedanken nachging, hat die Mutter das Zimmer betreten. Auf dem Arm trug sie den kleinen Timmy, der gerade aus dem Schlaf erwacht war. Als er den wunderschönen Baum sah, wurden seine ohnehin rosigen Bäckchen vor lauter Aufregung ganz rot.
Die Großen befestigten noch die letzten Kerzen am Baum. Timmy krabbelte am Boden umher und spielte mit den leeren Schachteln. Plötzlich entdeckte er die traurige, kleine Kugel. Sicher dachte er, die Großen hätten sie vergessen, denn er nahm sie und brachte sie zum Vater, damit dieser sie am Baum anbringen konnte. Richtig sprechen konnte Timmy noch nicht, dazu war er noch zu klein. Aber er zeigte auf dem Baum und plapperte aufgeregt: „Da, da, da". Als der Vater entgegnete: „Weißt Du Timmy, diese Kugel können wir nicht nehmen. Sie hat keinen Aufhänger", wurde auch er traurig und fing an zu weinen. Nun war aber der Heilige Abend und alle Menschen sollten fröhlich sein. Da meinte der Vater. „Weißt Du was Timmy? Wir holen einfach einen Bindfaden und befestigen die Kugel damit am Baum."
So kam die kleine, goldene Kugel doch noch an den Weihnachtsbaum. Und seltsam: Immer, wenn in der folgenden Zeit jemand den Baum betrachtete, hatte er das Gefühl, dass ganz oben links im Baum eine kleine, golden Kugel besonders prächtig glitzerte und funkelte.
Elke Bartz (†)
Weihnachten 1995