Wie
alle Jahre wieder am Heiligen Abend legt der Weihnachtsmann seinen zwölf
Rentieren ihr bestes Geschirr an. Rot und golden ist es und viele kleine
Glöckchen klingen daran. So festlich aufgeschirrt spannt er seine
ungeduldig scharrenden Tiere vor den Schlitten, der unter riesigen Bergen
von bunt verpackten, mit glänzenden Schleifen geschnürten
Päckchen und Paketen kaum noch zu erkennen ist.
Doch
in diesem Jahr ist etwas anders. Diesmal wird der Weihnachtsmann seine
Reise auf die Erde zu den Menschen nicht alleine antreten. Begleitet
wird er von einem noch ganz jungen Weihnachtsmann namens Klaus, den
er in die Bräuche des Geschenkeverteilens einweisen soll. Schließlich
herrschen in jedem Land andere Bräuche und Sitten. Da gilt es,
keine Fehler zu machen. Im nächsten Jahr soll der junge Weihnachtsmann
dann sein eigenes Gespann und seinen eigenen Schlitten bekommen und
selbständig zur Erde reisen, um die Menschen durch seine Gaben
zu erfreuen. Doch nun heißt es erst einmal, aufpassen und schauen,
wie es auf der Erde zugeht.
Es
ist soweit: Der Weihnachtsmann und sein Gehilfe springen auf den vollbepackten
Schlitten und ab geht es in Richtung Erde. Die Hufe der Rentiere wirbeln.
Sie haben kaum noch erwarten können, dass es endlich losgeht. Schließlich
ist es für sie der wichtigste Tag des Jahres.
Ãœber
dem Nordpol ist es ganz schön kalt und dunkel. Für Weihnachtsmänner
und Rentiere also genau das richtige Klima. In einem großen Bogen
erreichen sie Schweden. Hier ist es auch nicht viel wärmer; und
eine dicke Schneedecke dämpft alle Geräusche. Die Straßen
und die Häuser sind festlich dekoriert. Überall leuchten Kerzen
und leise klingen Weihnachtslieder durch die klare Nacht. Klaus, der
noch nie zuvor auf der Erde war, fällt fast vom Schlitten, weil
er sich zu weit nach außen lehnt um in die Fenster zu schauen.
Was er sieht gefällt ihm. Da ist eine Familie mit drei Kindern,
die gerade die Geschenke auspacken, die sie durch den Kamin geworfen
haben. Im Nachbarhaus jubeln ebenfalls Kinder. Diesmal sind es nur zwei.
Und irgend etwas ist anders. Klaus überlegt, was das wohl ist.
Da fällt ihm auf, dass eines der Kinder im Rollstuhl sitzt. Das
ist aber auch schon alles, was es von seinem Geschwisterchen unterscheidet.
Seine Freude und sein Lachen sind die gleichen.
Sie
fliegen weiter. Unter ihnen stapfen ein junger und ein etwas älterer
Mann durch den Schnee. Wo die wohl hinwollen, wundert sich Klaus. Der
Weihnachtsmann kennt die Antwort. „Der jüngere heißt
Lars. Er ist mit seinem Assistenten wie jedes Jahr am Heiligen Abend
unterwegs zu seinen Eltern. Sie wollen zusammen feiern". „Assistent?"
fragt Klaus. „Was ist denn das?" „Lars hat das Down-Syndrom.
Er lebt in seiner eigenen Wohnung, fünfzehn Minuten zu Fuß
von seinen Eltern entfernt. Da er nicht ganz alleine zurecht kommt,
hat er einen Assistenten. Der unterstützt ihn bei allem, was er
nicht alleine kann", erklärt der Weihnachtsmann. Drei Straßen
weiter sitzt eine ganze Familie in einem Raum zusammen und singt ein
Weihnachtslied. Mitten zwischen ihnen liegt mit strahlenden Augen eine
alte Frau. „Das ist Frau Petersen. Sie ist schon fast neunzig,
sieht schlecht, hört nicht mehr besonders gut und lebt bei ihrer
Enkeltochter, die sie pflegt", erklärt der Weihnachtsmann
dem fragend schauenden Klaus.
Nachdem
sie in Schweden ihre Geschenke, mal bei Familien mit oder ohne Kinder,
mal bei Familien mit alten oder behinderten Angehörigen, mal bei
allein lebenden behinderten oder nicht behinderten Menschen abgeliefert
haben, geht es weiter in Richtung Deutschland.
Hier
ist es nicht ganz so kalt wie in Schweden oder gar am Nordpol. Die Schneedecke
ist auch viel dünner. Sie reicht gerade um die Häusern und
die Landschaft weißglitzernd zu verzuckern. Aber geschmückt
sind die Häuser, die Wohnungen und die Straßen genauso festlich
wie in Schweden.
Sie
beginnen, ihre Geschenke zu verteilen. Hier lebt ein junges Paar, das
noch keine Kinder hat und frisch verliebt sein erstes gemeinsames Weihnachten
allein feiern will. Dort ist eine Familie mit einer kleinen Tochter,
die aufgeregt in ihrem Kinderzimmer herumhüpft und auf die Bescherung
wartet. Der Weihnachtsmann und sein Gehilfe sputen sich, um die Geschenke
so schnell als möglich an die ungeduldig wartenden Empfänger
zu bringen. Plötzlich stutzt Klaus. „Seltsam, ob da wohl
jemand einen Fehler gemacht hat. Hier sind ganz viele kleine Päckchen
mit unterschiedlichen Namen, aber an dieselbe Anschrift. Da kann doch
was nicht stimmen". Der alte Weihnachtsmann wird ernst. „Doch,
das stimmt schon. Die Anschrift stimmt. Das ist ein Heim in dem über
dreihundert behinderte Menschen leben und versorgt werden".
Tatsächlich,
in dem riesigen Haus, das zu der Anschrift gehört, sitzen viele
Menschen in einem großen, geschmückten Raum zusammen. Auch
hier werden Weihnachtslieder gesungen. Und dennoch ist die Stimmung
anders, irgendwie nicht so unbeschwert und fröhlich. Während
sie so in den Saal schauen, sehen sie dass eine Frau einen Rollstuhl
mit einem jungen Mann aus dem Raum schiebt. „Ob der schon müde
ist? Dabei ist es doch noch gar nicht spät. Wer geht schon am Heiligen
Abend zeitig ins Bett?" fragt Klaus. „Ach weißt du,
das Pflegepersonal muss anfangen, die Heimbewohner ins Bett zu bringen,
damit es pünktlich Feierabend bekommt und dann zuhause mit seiner
Familie feiern kann", bekommt er zur Antwort.
Klaus
fragt betroffen: „Leben alle behinderten Menschen in Deutschland
in solchen Heimen? Das kann doch nicht normal sein!" „Nicht
alle, aber viele", erklärt ihm der ältere Weihnachtsmann.
„Es gibt Menschen in der Verwaltung und der Politik, die meinen,
das sei eine angemessene, vor allem aber billige Lebensform für
diejenigen, die sich nicht alleine versorgen können".
Sie
fliegen weiter und verteilen ihre Geschenke in kleine Einfamilienhäuser
und große Wohnblocks. In den meisten Wohnungen feiern Familien
und Freunde miteinander. Immer wieder sind auch behinderte und alte
Menschen darunter. Aber es sind weniger als in Schweden.
Plötzlich
taucht wieder ein großes Haus unter ihnen auf. „Scheint
wohl wieder ein Heim für behinderte Menschen zu sein", meint
Klaus. „Nein, diesmal sind die Geschenke für die alten Menschen
gedacht, die dort leben", sagt der Weihnachtsmann. „Viele
von ihnen bekommen ihre Geschenke aber erst morgen, denn sie schlafen
schon längst. Sie haben Medikamente bekommen, damit sie nachts
nicht aufstehen und umherwandern. Manche werde sogar ans Bett gefesselt,
angeblich, damit sie nicht herausfallen. Dabei geht es lediglich darum,
Kosten für den Einsatz von Pflegepersonal zu sparen". Klaus
ist entsetzt. Er kann nicht verstehen, dass man so mit Menschen umgehen
kann.
Nach
einigen Minuten kommen sie an ein Haus, durch dessen Fenster sie mehrere
junge Menschen um einen Weihnachtsbaum sitzend sehen. Unter ihnen ist
ein junger Mann im Rollstuhl. „Endlich mal wieder eine normale
Situation", freut sich Klaus. Da feiert ein behinderter Mann zusammen
mit seinen nicht behinderten Freunden. Er lauscht, was sich die Freunde
erzählen und wird traurig. Der junge Mann ihm Rollstuhl sagt nämlich
gerade zu seinen Freunden: „Hoffentlich ist das nicht das letzte
Weihnachtsfest in meiner Wohnung. Ich habe Angst, dass das Gericht wie
die Stadtverwaltung der Meinung ist, meine Assistenzkosten seien zu
teuer und ich müsste ins betreute Wohnen ziehen. Ich könnte
es nicht ertragen, mein ganzes bisheriges Leben aufgeben zu müssen.
Hoffentlich wird mir das Recht zugebilligt, wie jeder andere Mensch
frei und selbstbestimmt zu leben".
Klaus
ist wieder schockiert. Er kann nicht fassen, dass in Deutschland, einem
der reichsten Länder der Welt, Menschen aus Kostengründen
ausgeschlossen und weggesperrt werden, während sie im viel ärmeren
Schweden frei leben können. Während sie weiterfliegen, grübelt
er nach. „Da muss sich doch was ändern und zwar schnell.
Wenn wir zurück fliegen, machen wir nochmal einen Bogen nach Berlin
und pflanzen in die Köpfe der Politikerinnen und Politiker den
Gedanken, dass alle Menschen das Recht haben müssen, in einer selbst
gewählten Wohnform mit den notwendigen Hilfen zu leben. Dann wird
es im neuen Jahr sicher viel besser. Die Anstaltsmauern werden abgerissen
und die behinderten und alten Menschen werden inmitten ihrer Gemeinden
leben". Der Weihnachtsmann ist von der Idee sehr angetan und stimmt
zu.
Auf
dem Rückweg fliegen sie mit ihrem nun leeren Schlitten schnell
Richtung Berlin. Dort angekommen merken sie, dass sie eines nicht bedacht
haben: Während junge behinderte Menschen im Behindertenheim früh
ins Bett gebracht werden, damit die Pflegerinnen und Pfleger Feierabend
bekommen, während im Altenheim die Bewohnerinnen und Bewohner mit
Medikamenten „ruhiggestellt" werden und ein junger Mann
um sein selbstbestimmtes Leben bangt, sind die Politikerinnen und Politiker
daheim bei ihren Familien und feiern ein besinnliches Weihnachtsfest….
Elke Bartz (†)
Weihnachten 2003