Das Telefon klingelt. Jan nimmt den Hörer ab:
"Weber"
…
"Nein Mutter, ich wollte dich gerade anrufen. Es tut mir schrecklich Leid. Aber ich habe alles versucht, um noch eine Lösung zu finden. Ich kann auf keinen Fall kommen. Der Fahrdienst ist heute am Heiligen Abend telefonisch nicht erreichbar. Da geht nur der Anrufbeantworter ran. Ihr müsst Weihnachten ohne mich feiern. Ich komme hier einfach nicht weg. Sag Vater einen schönen Gruß und gute Besserung. Er soll sich seine Bronchitis erst mal auskurieren. Dann könnt ihr mich besuchen kommen. Ich melde mich später nochmal".
Nachdem er sich von seiner enttäuschten Mutter verabschiedet hat, setzt sich Jan vom Rollstuhl in einen Sessel um. Im Radio werden Weihnachtslieder gespielt. Er lässt die vergangenen Wochen Revue passieren: Es war Ende September, als er gut gelaunt von einem Kurzurlaub – einen langen Urlaub kann er sich derzeit nicht leisten, weil er sich erst im Frühjahr eine kleine Dreizimmer-Eigentumswohnung gekauft hat - wieder auf der Arbeit erscheint. Er ist diplomierter Sozialarbeiter mit einer Vollzeitstelle. Zusammen mit einer Halbtagskraft berät und unterstützt er Menschen mit sozialen Problemen in einer Beratungsstelle. Die Arbeit macht ihm viel Spaß. Und in der kleinen Stadt im Südwesten gefällt es ihm recht gut, obwohl sie rund 270 km von seiner Heimat entfernt ist.
Kaum ist zwei Stunden er im Büro, als sein Vorgesetzter aus der rund 45 km entfernten Großstadt hereinkommt und ihn beinahe verlegen anschaut. "Jan, es tut mir schrecklich Leid. Aber wir können dich ab Ende November nicht mehr weiter beschäftigen. Uns sind Zuschüsse von der Kommune gestrichen worden. Deshalb müssen wir diese Beratungsstelle hier schließen. Die Arbeit wird künftig von unserer Hauptstelle übernommen. Wir wissen selbst noch nicht, wie wir das praktisch umsetzen sollen."
Jan erinnert sich noch genau daran, dass er damals das Gefühl hatte, ihm würde der Boden unter den Füßen, oder besser unter den Rädern, weggezogen. Aus etlichen Beratungen für andere wusste er, dass sein besonderer Kündigungsschutz für Schwerbehinderte ihm überhaupt nichts nützen würde. Wo keine Stelle mehr ist, kann auch niemand mehr arbeiten. Betriebsbedingte Kündigung heißt das.
Anfang Dezember passierte dann, was er am wenigsten brauchen konnte: Sein altes Auto hatte einen Motorschaden. "Totalschaden" hatten sie lapidar in der Werkstatt gesagt. Reparieren würde sich nicht mehr lohnen. Den Wagen hatte er vor drei Jahren kurz nach Abschluss seines Studiums günstig von seinem Kommilitonen und besten Freund Dennis kaufen können. Der Kombi mit Automatikgetriebe lies sich mit relativ wenig Aufwand auf seine Bedürfnisse umrüsten. Den größten Batzen, eine Verladehilfe für seinen kleinen Elektrorollstuhl, steuerten seine Eltern bei. So konnte er damals auf die Beantragung öffentlicher Zuschüsse verzichten. Die hätte er auch schwer bekommen, da er beruflich noch nicht zwingend auf ein eigenes Auto angewiesen und der öffentliche Personennahverkehr in seiner Heimatstadt relativ barrierefrei war.
Jetzt ist das jedoch ganz anders. Wo er jetzt wohnt, kann beim besten Willen nicht von barrierefreiem Personennahverkehr gesprochen werden. Ohne eigenes Fahrzeug ist ein Rollstuhlbenutzer hier völlig "aufgeschmissen". Arbeiten, einkaufen, Therapiebesuche oder Freizeitaktivitäten sind ohne Auto unmöglich. Wie soll er sich woanders vorstellen, wenn er gar nicht zu den möglichen Arbeitsstellen hinkommt?
Folglich hat Jan sofort bei seinem Arbeitsamt einen Antrag auf KFZ-Hilfe gestellt. Es dauert keine zwei Wochen, bis er den Bescheid in der Hand hält. Bei Ablehnungen sind die schnell, denkt Jan. Da er nicht berufstätig sei, könne ihm keine KFZ-Beihilfe gewährt werden. Er solle wiederkommen, wenn er eine Arbeit gefunden hätte. Dann könnte man prüfen, ob zur Ausübung seiner Erwerbstätigkeit ein Fahrzeug zwingend notwendig sei. Natürlich hat er sofort Widerspruch eingelegt. Aber das kann dauern.
Selbst finanzieren kann er ein neues Auto nicht. Für seine kleine Eigentumswohnung hat er sich schon bis zur Grenze belasten müssen. Da seine Beratungsstelle gut frequentiert war, hatte er seinen Arbeitsplatz und damit sein Einkommen als sicher angesehen. "So kann man sich irren", denkt er bitter. "Hoffentlich wird das kommende Jahr besser als die zurück liegenden Monate".
Er erinnert sich an die letzten Tage. Da er kein Auto hat, wollte er über Weihnachten seine Eltern mit dem Zug besuchen. Um zum barrierefreien Bahnhof in die nächst größere Stadt zu kommen, wollte er den Behindertenfahrdienst bestellen. "Sie haben Glück", hieß es. "Da ist einer krank geworden. Sonst hätten wir sie nicht fahren können. Unsere Fahrten für die Feiertage werden in der Regel bis spätestens Ende September angemeldet". Komisches Gefühl, sich darüber freuen zu sollen, dass jemand anderes an Weihnachten krank im Bett liegt, denkt Jan.
Doch irgendwie scheint "der Wurm drin" zu sein. Nachdem der Wetterbericht am gestrigen 23. ständig vor einer Schneefront mit "erheblichen Schneemengen und glatten Straßen" gewarnt hat, kommt der Anruf vom Fahrdienst: "Sie haben sicher den Wetterbericht gehört. Wir sagen gerade alle Fahrten für morgen ab". Wir können es unseren Zivis nicht zumuten, bei solch schlechten Bedingungen zu fahren. Da haben Sie sicher Verständnis dafür". Was hätte er darauf sagen sollen?
Jan ist klar: Wenn der Fahrdienst wegen der Schneemengen nicht fahren kann, kommt er erst recht nicht mit dem Rollstuhl draußen durch. Nur gut, dass er noch 'ne Pizza eingefroren und ein paar Konserven auf Vorrat hat. Beim Blick aus dem Fenster bestätigte sich der Wetterbericht. Es schneit unaufhörlich in dicken Flocken. Beim Gedanken an ein einsames Weihnachten mit einer Tiefkühlpizza kann er nicht die geringste Freude angesichts der weißen Pracht empfinden.
Am anderen Morgen weckt ihn sein Radiowecker. Er wundert sich noch über die Helligkeit in seinem Zimmer, als eine Stimme aus dem Radio berichtet: "Die erwartete Schneefront hat den Südwesten schneller als erwartet überquert. In der Nacht hat es zunächst stark geschneit. Da der Räumdienst darauf eingestellt war, sind die Hauptstraßen bereits wieder befahrbar. Derzeit werden die Nebenstrecken geräumt. Ein Hochdruckgebiet bringt heute kalte Temperaturen und viel Sonne. Weiterer Schnee wird nicht erwartet". Und tatsächlich: Die Sonne scheint ins Zimmer. Da der Schnee sie reflektiert, wirkt es noch heller als sonst.
Jan greift zum Telefonhörer und wählt die Nummer des Behindertenfahrdienstes. "Jetzt können die ja doch fahren", denkt er. "Wenn ich mich schnell fertig mache, reicht es sogar noch zu dem Mittagszug, für den ich ohnehin die Fahrkarte habe". Aus dem Telefonhörer schallt ihm eine freundliche Stimme entgegen: "Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Unsere Zentrale ist am 27. Dezember ab 8.30 Uhr wieder für Sie besetzt. Wir wünschen Ihnen schöne Feiertage".
Kurz darauf läutet das Telefon. Jan kann es kaum fassen. Sein Freund Dennis ist am anderen Ende. Dennis, von dem er sein Auto gekauft hat, Dennis, den er seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen hat, weil der einen tollen Job in Denver angenommen hatte. Dennis berichtet, dass er über die Feiertage bis Anfang Januar seine Eltern besuchen würde. Die kämen heute erst am frühen Nachmittag aus Indonesien zurück, wo sein Vater die Aufsicht über ein Großbauprojekt führt. – Jan erzählt ihm kurz, was er in den vergangenen Monaten erleben musste. "Wir sehen uns so bald als möglich", verspricht Dennis.
Drei Stunden später, als Jan sich angezogen und gefrühstückt hat, in seinem Sessel sitzt und über die zurückliegende Zeit nachdenkt, klingelt es an der Haustür. Er steigt vom Sessel in den Rollstuhl, fährt zur Tür und blickt durch den "Spion". Dann reißt er die Tür auf. "Mensch Dennis, das gibt’s doch gar nicht. Toll dass du kommst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue". "Doch, kann ich", grinst der Ankömmling bis über beide Ohren. "Aber lass mich doch erst einmal rein. Meine Kiste ist ganz schön schwer".
Erst jetzt registriert Jan, dass sein Freund beinahe hinter einer riesigen Kiste verschwindet. "Tschuldige. Die Kiste hab ich vor lauter Freude gar nicht wahrgenommen. Was schleppst du da bloß alles an? Und zieh doch deine Jacke aus". "Langsam, langsam", lacht Dennis. "Nachdem du am Telefon erzählt hast, dass du eigentlich zu deinen Eltern fahren wolltest und wegen dem Schnee nicht aus dem Haus kamst, dachte ich, ich muss für unser leibliches Wohl in den nächsten zwei Tagen sorgen. Übrigens, ich habe dir die Post gleich mit rauf gebracht. Der Postbote kam mir gerade entgegen".
"Ja, und deine Eltern. Die erwarten dich doch heute zuhause", fragt der zunächst ent- dann aber begeistere Jan. "Mach dir mal da keine Sorgen", erklärt Dennis. "Die haben doch tatsächlich keinen Flieger mehr bekommen. Sie können deshalb erst am frühen Morgen des zweiten Weihnachtstages hier sein. So lange wirst du mich nicht mehr los".
Nachdem er seine Kiste in der Küche angestellt hat, greift er in seine Manteltasche. "Hier, ich habe dir deine Post gleich mit rein gebracht. Der Postbote kam zur gleichen Zeit wie ich". Er reicht Jan drei Weihnachtskarten und zwei Briefe. "Während du deine Post anschaust, muss ich noch mal kurz ans Auto", meint Dennis und verschwindet nach draußen.
Währenddessen reißt Jan hektisch den einen Briefumschlag auf. Als Absender er hat die große Beratungsstelle erkannt, bei der er sich vor etwa vier Wochen beworben hat. Das Bewerbungsgespräch war nach seinem Gefühl recht positiv verlaufen. Deshalb war er auch enttäuscht, nichts mehr von deren Personalchef zu hören. Jan liest: "Sehr geehrter Herr Weber, wir müssen uns dafür entschuldigen, dass Sie erst jetzt von uns hören. Leider war unser erstes Schreiben an Sie nicht versandt, sondern versehentlich zu den Akten gelegt worden. Wir möchten es nicht versäumen, Ihnen nun mitzuteilen, dass wir Sie ab dem 15. Januar gerne in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beschäftigen wollen…".
In der Zwischenzeit ist Dennis, mit einem kleinen Weihnachtsbaum bewaffnet wieder in die Wohnung gekommen. "Hey, bist durch jetzt durchgedreht?" fragt er völlig verblüfft seinen Freund, der mit seinem Rollstuhl immer im Kreis herumfährt, mit einem Brief in der Luft herumwedelt und singt. "Jetzt kann Weihnachten kommen, jetzt kann Weihnachten kommen". Dennis schnappt sich den Brief, liest und grinst: "Tatsächlich, was soll jetzt noch schief gehen? Nächstes Jahr hast du wieder Arbeit. Dein bester Freund ist da. Wir können uns was Leckeres kochen und so richtig gemütlich in vergangenen Zeiten schwelgen. Und Anfang Januar beantragst du gleich ein neues Auto".
"Wird alles gemacht, wird alles gemacht", jubelt Jan. "Aber lass mich vorher kurz meine Eltern anrufen. Denen muss ich die Neuigkeiten auch gleich mitteilen. Die sehen mich sonst noch einsam und verlassen hier sitzen". Er schnappt sich sein Telefon und wählt die Nummer seiner Eltern. Als sich seine Mutter meldet, erzählt er ihr von seiner neuen Arbeitsstelle und von Dennis' Besuch. "Weißt du Mutter, auch wenn es in diesem Jahr nicht klappt, dass wir zusammen feiern können. Aber ich verspreche dir, im nächsten Jahr bestimmt wieder…".
Elke Bartz (†)
Weihnachten 2006