(Leider nur)
eine Weihnachtsgeschichte
von Dr. Klaus Mück
Weihnachten 2009
Es ging wieder einmal hoch her in der Klasse 7e der Engelschule im Himmelsberg. Es hatte sich prominenter Besuch angesagt, schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass einer der Erzengel sich ankündigte. Da sie aber schon Mitte November hatten und diese neuen Schutzengel zu Beginn der Adventszeit ihre Aufgaben übernehmen sollten, hatte sich diese sinnvolle Tradition ergeben.
Uriel wollte heute den angehenden Schutzengeln einige Dinge auf ihren Weg mitgeben, die sie in ihrer Aufgabe, die Menschen zu beschützen, wissen mussten. Menschen können nämlich unendlich stur und verbohrt sein - eine Eigenschaft, die Uriel als Hüter der Harmonie immer wieder zu ungläubigem Kopfschütteln verleitete. Manchmal wünschte er sich, dass sein Chef das mit dem freien Willen vielleicht nicht ganz so konsequent hätte umsetzen sollen, schließlich hatten sie jetzt dadurch alle Hände voll zu tun. Andererseits gab es dem Engelalltag dann doch wieder etwas Würze und tagein tagaus "Halleluja!" und "Hosianna!" zu jauchzen, war nun auch nicht wirklich abwechslungsreich. Außerdem konnte man sich über diese Tatsache streiten wie man wollte, sein Chef hatte sich zu Anbeginn der Zeit zu diesem Konzept entschieden und nun war es so. Wie jedes Jahr wollte sich Uriel deshalb kurz vor der Abschlussprüfung in der Engelschule die angehenden Schutzengel nochmals zur Brust nehmen und mit ihnen ein paar wichtige Punkte durchsprechen. Wann sollten sie ihre schützende Hand über ihre ihnen anvertrauten Menschenkinder halten, wann sollten sie sich zurückhalten und wann sollten sie gar in Erscheinung treten, um Schlimmeres zu verhindern. Letzteres war die ultima ratio und musste mit dem Chef abgeklärt sein, also nichts, wo man einfach mal so machen durfte, weil gerade wieder mal was Schreckliches passiert. Auch darüber wollte er reden …
Es kam jedoch anders. Uriel betrat den Klassenraum und erwartete eine schüchtern vor ihm sitzende Engelschar. Doch ihm fielen die wachen Augen mancher angehender Schutzengel, ein ungeduldiges Hin- und Herrutschen und das Zittern mancher Flügel auf. Kaum hatte er sie mit einem freudigen "Halleluja!" begrüßt, wurde er schon mit Fragen bestürmt. Stimmt, sie hatten ja vor einiger Zeit das Schulungskonzept geändert und ein Praktikum eingeführt, das nun zu allerhand Fragen führte. "Ich hatte da ein Menschenkind, das sich einen Holzspreißel in den Finger gerammt hatte. Ich hab's nicht verhindert, aber das muss schrecklich weh getan haben …" sprudelte es aus einem Engel und kaum war es heraus, prustete die ganze Klasse vor Lachen und auch Uriel konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Als sich alle wieder beruhigt hatten, erklärte er die wichtigsten Grundsätze ihrer Aufgabe: "Vor allem müsst ihr eure Schützlinge vor ihren eigenen Dummheiten bewahren. Wenn sie auf einem morschen Ast klettern, dann stützt den Ast von unten. Ihr werdet aber das Unglück nicht immer verhindern können und manchmal ist das auch im großen Plan so vorgesehen. Wenn sie also z.B. einen Autounfall hatten, dann sorgt wenigstens dafür, dass der Airbag aufgeht und der Krankenwagen schnell durchkommt. Alles andere hat auch mit dem freien Willen zu tun und wie ihr wisst, ist da unser Chef besonders stolz drauf und das gilt es zu respektieren, auch wenn die Konsequenzen manchmal hart erscheinen." Da plapperte einer der Engel drauf los und erzählte aus seinem Praktikum: "Ich hatte da ein Menschenkind, das nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Dieser Mensch will ein Leben führen wie alle anderen auch. Er arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein bisschen was vom Leben zu haben. Aber aufgrund seiner Behinderung braucht er immer einen Assistenten, der ihm für Dinge zur Hand geht, die er alleine nicht durchführen kann. Deshalb muss er all das, was er erarbeitet abgeben, damit er den anderen Menschen nicht so auf der Tasche liegt. Und seine Lebensgefährtin auch, selbst seine Eltern müssen noch was abgeben, obwohl sie schon ein Leben lang für ihn sorgen." Bevor Uriel antworten konnte, fiel ihm ein anderer Engel ins Wort: "Ich hatte fast das Gleiche, nur saß dieser Mensch von Geburt an im Rollstuhl. Er war fast verzweifelt, weil er das Gefühl hatte, dass er gegen Windmühlen kämpfe." Immer mehr Engel meldeten sich mit ganz ähnlichen Erlebnissen zu Wort. Ein anderer berichtete, dass die Familie des Menschenkinds, das er beschützen sollte, dann nach seinem Tod für alles aufzukommen hätte, wieder ein anderer erzählte, dass einer aus einem Heim nicht mehr herauskäme, obwohl das selbst bei den Menschen als Unrecht erkannt wurde. Einer meinte gar, dass er ein Menschenkind erlebt habe, der diese Ungerechtigkeit als Nächstenliebe verstand, weil doch so die behinderten Menschen ihren Teil dazu beitragen konnten. Da schüttelten die anderen ungläubig den Kopf über dieses falsche Verständnis von Nächstenliebe.
Uriel hatte ein deja vue. Wurde das nicht schon in der Vorjahresklasse und der davor und auch davor schon erzählt? Er wusste nicht mehr, wie lange das schon immer wieder ein Thema war. Hatten sie deswegen nicht ein besonderes Projekt angestoßen, das sich in der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen manifestierte? Eigentlich war das ein erfolgreiches Projekt der Vorjahresklassen gewesen, das dazu führen sollte, dass die Menschen ohne Einschränkungen die Chancen erkennen sollten, wenn sie in allen Bereichen und Belangen mit den Menschen mit Einschränkungen zusammenleben, zusammenarbeiten, sie an allem was das Leben zu bieten hatte, teilhaben lassen. Nicht nur die Rechte, auch die Pflichten und es sollte für beide Seiten von Vorteil sein, denn der Erfahrungsschatz eines Menschen kann so unendlich groß für die Menschheit sein. Und wie schnell konnte sich doch das Blatt wenden, dass man plötzlich am eigenen Leib erfahren musste, was es bedeutet, mit schier unüberwindbaren Hürden leben zu müssen. Doch es schien so, als müsste eine weitere Klasse in bewährter Weise ihren Einfluss auf die Menschen ausüben. Und diese Klasse schien besonders engagiert zu sein …
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(kobinet) Fast möchte man schreiben: Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk seit langem! Nachdem die Bundesregierung ein Jahr nach der Ratifizierung durch den Bundestag endlich erkannt hatte, welche Chancen in der konsequenten Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen nicht nur für Betroffene liegen, wurde zusammen mit den Betroffenen und weniger mit Heimen unterstützende Verbände gesprochen und ein Aktionsplan aufgestellt und - noch wichtiger! - auch dessen Umsetzung in passende Gesetze formuliert. Dieser sieht unter anderem für Assistenznehmer vor, dass sie ihrem Bedarf entsprechend Assistenz bekommen können und diese Leistung nicht mehr Teil des SGB XII sind, sondern eine einkommens- und vermögensunabhängige Leistung darstellt. Das Ende der Bedürftigkeitsvoraussetzung als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben ist damit endlich besiegelt. Damit ist ein wichtiger Schritt in Richtung wirklicher Teilhabe getan. klm
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Halleluja!
Uriel lehnte sich zufrieden zurück. Wieder einmal haben sie rechtzeitig vor Weihnachten eine engagierte Engelschar in Dienst stellen können. Auch sein Chef würde zufrieden sein. Jetzt musste er seinem Chef nur noch irgendwie nahebringen, dass diese Engelschar mit ihren Schützlingen diesen Erfolg feiern möchte. Anbieten würde sich der 26. März, der Tag an dem die UN-Konvention in Kraft trat. Vielleicht könnte man das ja dann auch mit Ostern verbinden …