(Leider nur)
eine Weihnachtsgeschichte
von Dr. Klaus Mück
Weihnachten 2010
Es war draußen kalt geworden und der Weg zur Arbeit war wie gewohnt verlaufen. Vorbei an den im Sommer neu eingerichteten Baustellen, um den seit vielen Jahren diskutierten U-Bahn-Bau endlich umsetzen zu können. Die Blätter an den Bäumen waren schon seit wenigen Wochen abgefallen und die klirrende Kälte zeigte, dass mit Schnee und Eis bald zu rechnen sei. Wie jeden Morgen schloss Michael Bergheimer die Tür zu seinem Arbeitszimmer in der ersten Etage des Rathauses auf, ging hinein, stellte seine Tasche an den Schreibtisch und hängte seinen Mantel in den Schrank. Als Oberbürgermeister einer Großstadt war er gewohnt, zu handeln und auch unangenehme Entscheidungen zu treffen, so dies notwendig war. Leicht ist es ihm dann nie gefallen, wenn es gravierende Nachteile für Menschen bedeutete.
Bei einem Wetter wie heute, kreisten seine Gedanken aber um ein anderes Thema. Der Todestag seiner Frau lag nun schon fünf Jahre zurück und sollte sich in der kommenden Woche wieder einmal jähren. Ein schwerer Autounfall auf eisglatter Fahrbahn hatte ihm sein größtes Glück genommen. Er hatte lange gebraucht, um darüber hinweg zu kommen. Kinder hatten sie keine, später vielleicht, hatten sie immer gesagt. Die Arbeit mit den vielen auf ihn prasselnden Aufgaben hatte ihm Ablenkung und Struktur gegeben, um nicht zu verzweifeln. Freunde halfen ihm auf die Beine und allmählich kam er mit dem Alleinsein inmitten vieler Menschen und trotz aller Popularität zurecht.
Doch in den letzten Wochen lebte er geradezu wieder auf. Für Menschen in seinem Umfeld war klar, dass mit ihm etwas geschehen war und seine Freunde bemerkten schnell, dass wieder ein Mensch, eine liebenswerte Frau in sein Leben getreten war. Seinen Freunden hatte er Heike noch nicht vorgestellt, bald wollte er es tun. Vielleicht war ja die Zeit zwischen den Jahren, wo alles etwas mehr Ruhe versprach, dazu geeignet. Heike war wundervoll, musisch begabt, eloquent, liebevoll und natürlich gut aussehend. Er hatte sie schon im Frühjahr bei einer Informations-Veranstaltung zum Bau der neuen U-Bahn kennengelernt und sie war ihm schon damals durch zielgerichtete und pointierte Fragen aufgefallen. Ihr wertvolles Engagement im hiesigen Ortsverein eines Bundesverbandes für die Belange von Menschen mit Assistenzbedarf wurde ihm erst deutlich als er die von ihr gestellten Fragen mit Experten nochmals durchging. Er hatte in seinen Amtsjahren gelernt, betroffene Menschen egal bei welcher Fragestellung mit ins Boot zu nehmen und ihr oftmals vorhandenes und wertvolles Expertenwissen zu nutzen. Sprechstunden und Bürgertreffen sowie insgesamt die Nähe zur Bevölkerung waren ihm von jeher ein Anliegen gewesen. Die Sorgen der Bürger ernst nehmen und eine Lösung für ihre Fragen, Probleme oder gar Nöte zu finden, war etwas, wozu er seine Mitarbeiter immer wieder anhielt. Nicht immer war es leicht oder gar möglich, alles zur Zufriedenheit zu lösen, aber sich wenigstens darum zu bemühen war wichtig und so war es nicht selten, dass es ihm oder seinen Mitarbeitern gelang, einen praktikablen Ansatz zu finden. Dieser Erfolg und die damit verbundene Popularität brachte ihm den Neid vieler Amtskollegen ein und sein Stand im Landkreistag war nicht immer leicht, da er immer wieder anmahnte, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Angesichts klammer Kassen, die allerorts zu beklagen waren, hatte auch er immer wieder Diskussionen mit seinem Kämmerer. Nur mit viel Überzeugungsarbeit und Engagement auch der Bürger seiner Stadt waren viele Projekte über Wasser zu halten. Doch es lohnte sich. Es begann sich ein Klima abzuzeichnen, das das gegenseitige Verständnis stärkte und vieles möglich machte, was an anderen Orten scheiterte. Heike war in diesem Punkt noch weiter als er. Neben ihrem Beruf als Steuerberaterin in einer mittelgroßen, aber dennoch renommierten Kanzlei verhalf sie in ihrem Ehrenamt als Beisitzerin des Ortsvereinsvorstandes anderen behinderten Menschen zu ihrem Recht. Sie war erst seit einem Jahr in der Stadt, nachdem ihre Lebensplanung von ihrem damaligen Lebenspartner durchkreuzt wurde und sie nach der Trennung einen Ortswechsel vorgenommen hatte. Sie hatte schnell gesehen, dass sie mit ihrer Erfahrung im Bereich der Behindertenarbeit auch hier wertvolle Dienste leisten konnte. Wenigstens waren die Sachbearbeiter im Rathaus offen für die Fragestellungen, aber oft waren auch ihnen die Hände gebunden, weil die aktuelle Gesetzeslage oder vielfach auch deren Interpretation viele Belange der betroffenen behinderten Menschen nicht berücksichtigte.
In einem Gespräch mit dem Oberbürgermeister am Rande einer Ortsbegehung zur Prüfung der Barrierefreiheit des geplanten U-Bahn-Projektes, hatte sie festgestellt, dass OB Bergheimer sich Zeit nahm, um sich die Problempunkte anzuhören und zu hinterfragen. Sie fühlte sich ernst genommen, hätte jedoch zu diesem Zeitpunkt niemals gedacht, dass sie sich in den nächsten Monaten auch privat näher kommen würden und wie engagiert er sich den offenen Problemstellungen annehmen würde. Die bevorstehende Weihnachtszeit war ihm schon immer zu hektisch und zu voll gefüllt mit Erwartungen, die dann doch nicht oder nicht so wie es wünschenswert gewesen wäre, erfüllt wurden. Meist kam es ihm vor, als rase er trotz aller oder gerade wegen Advents-, Weihnachts- und Betriebsfeiern, zu denen er als Oberbürgermeister eingeladen wurde, mit dem D-Zug in die Weihnachtsfeiertage. Gerade in den letzten Jahren nachdem er seine Frau verloren hatte, war Weihnachten ein heikles Thema. Er war immer von seiner Schwester eingeladen worden und hatte dies auch immer gerne angenommen, da er so ein Stück heile Welt mit seinen Neffen und deren Eltern verbringen konnte.
Doch diese Weihnachten wollte er mit Heike verbringen. Nachdem sie sich bei offiziellen Veranstaltungen öfters gesehen und mehr und mehr gespürt haben, dass sie sich auch privat viel zu sagen hatten, legten sie nach anfänglichem Zögern und Bedenken ihre Scheu vor der öffentlichen Meinung beiseite und gaben ihren immer stärker werdenden Gefühlen nach. Interessiert an ihrem Leben und ihrer ehrenamtlichen Arbeit erfuhr Michael von der UN-Behindertenrechtskonvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen, der außerordentlichen Bedeutung und Chance, die damit für alle Menschen unserer Gesellschaft verbunden sind. Er hatte durchaus schon von der BRK gehört und wusste, dass es geltendes Recht war, war aber längst nicht so im Detail informiert wie Heike. Schockiert hatte ihn, dass es Amtskollegen gab, die diese UN-Konvention ignorierten oder gar boykottierten. Geradezu ungläubig musste er zur Kenntnis nehmen, dass es sogar Fälle gab, die aufgrund ihrer Behinderung um ihre Existenz fürchten mussten. Dabei konnte doch jeden einen Schicksalsschlag ereilen, der dann ein Leben mit Rollstuhl und vielleicht sogar mit Assistenz bedeuten könnte. Wie schnell sich ein Lebensweg ändern konnte, hatte ja auch er schmerzlich erfahren müssen.
Wer wäre dann nicht froh, wenn er gerade dann auf Strukturen bauen könnte, die ein Leben mit voller Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft möglich machte? Er ahnte zwar schon lange, dass abgeflachte Bordsteine und Niederflurstraßenbahnen eine Erleichterung nicht nur für behinderte Menschen im Rollstuhl, sondern auch für den Rest der Bevölkerung waren, er wusste aber nicht, dass die alltäglichen Schwierigkeiten so tiefgreifend und nicht ausschließlich direkt durch die Behinderung begründed waren. Besonders plastisch wurde es ihm am Beispiel einer Partnerschaft. Ein behinderter Mensch, der aufgrund seiner Behinderung Assistenz für alle Handgriffe benötigt, die er selbst behinderungsbedingt nicht durchführen kann, muss in aller Regel auf die Eingliederungshilfe zurückgreifen. Durch die Einführung der Assistenz basierend auf sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen wurde die Assistenz privat unbezahlbar. Selbst mit einem guten Job war hier nicht mehr viel auszurichten. Da die Assistenzleistung nur einkommens- und vermögensabhängig gewährt wird, war ihm sofort klar, dass kein Vermögen und keine großen Sprünge mit dem Einkommen möglich war – lebenslang, denn das Heilen von behinderten Menschen wäre nun wirklich etwas für die Zeit um Weihnachten. Aber mit dem neuen Verständnis einer Behinderung, wie sie die UN-Konvention definierte, gehören Menschen mit Einschränkungen so wie sie sind dazu. Auch das Wort „gewähren" wurde ihm immer unangenehmer und er dachte darüber nach, welche Formulierung seine Mitarbeiter stattdessen eher verwenden sollten, schließlich handelte es sich ja nicht um einen Gnadenakt, sondern um ein Recht, das es zu erfüllen galt.
Mit seinem Wissen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge wurde ihm schnell klar, dass die Aufwendungen für die Assistenz durch die Rückflüsse an öffentliche Kassen über Steuern und Sozialabgaben der Assistenten und des behinderten Assistenznehmers bereits bei einem mittleren Einkommen ausgeglichen waren. Oft hatte er in anderem Zusammenhang wie z.B. den Kitas mit seinem Kämmerer über eine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise diskutiert. Dieser warf dann immer wieder ein, dass dazu aber die Leistungen des Bundes an die Kommunen angepasst werden müssten, sodass diese Rückflüsse auch wieder bei ihnen ankämen. Was aber Michael erst auf dem zweiten Blick klar wurde, war, dass Lebenspartnern von behinderten Menschen mit Assistenzbedarf noch weniger Einkommen und noch weniger Vermögen zugestanden wurde und sie zudem noch zur Pflege ihres Partners herangezogen wurden. All das, was sie sich einmal erspart hatten, würde für die Aufwendungen der Assistenz herangezogen werden, bis nur noch 900 EUR davon übrig wären. Wer tut sich so etwas an? Er war fest entschlossen, diesen Missstand anzugehen. Alle politischen Kräfte, die ihm zugänglich waren, wollte er mobilisieren und seinen Beitrag leisten, dass eine volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft möglich würde. Unbestritten gehört dazu auch eine Lebenspartnerschaft. Doch bis zu der Verwirklichung der einkommens- und vermögensunabhängigen Assistenzleistung würden Heike und er weiterhin getrennte Wohnungen bewohnen und ein getrenntes Leben führen. Doch an Weihnachten würde er alleine ohne Heikes Assistentin dafür sorgen, dass alles reibungslos verlaufen würde und sie das Fest der Liebe alleine zu Zweit miteinander verbringen könnten. Wie er Heike in ihrem Rollstuhl die fünf Stufen in seine Wohnung hinauf bringen konnte, hatte er schnell gelernt und auch dafür wollte er im kommenden Jahr eine einfachere Lösung finden.