Das Problem von Nähe und Distanz in der Pflege 
von Isolde Hauschild, Leipzig
 Ich bin, wie meine ältere Schwester auch, seit meiner Kindheit           an progressiver Muskeldystrophie erkrankt. Jetzt bin ich Ende 30 und           schon sehr lange auf Hilfen durch andere Personen angewiesen. Meinen           24-Stunden-Hilfebedarf organisiere ich seit über dreieinhalb Jahren           mit persönlichen Assistentinnen nach dem Arbeitgebermodell. Das           heißt, ich suche mein Pflegepersonal durch Anzeigen beim Arbeitsamt           oder in der Zeitung selbst und stelle die Assistentinnen direkt mit           Arbeitsvertrag ein. 
Distanz trotz Nähe
 Das Motto, das ich in den letzten Jahren versucht habe umzusetzen,           lautet „Distanz trotz Nähe". Das Problem der sehr großen           Nähe zu Pflege- bzw. Assistenzpersonen will ich nicht in den Vordergrund           rücken lassen, sondern versuche einen Weg zu finden, trotz der           engen „Beziehung" zwischen mir und meinen Assistentinnen           einen gewissen Abstand zu wahren. Ich konnte nicht immer auf diese Weise           mit der Abhängigkeit von Hilfepersonen umgehen, vor allem nicht,           wenn die Hilfen von anderen, mir nicht nahestehenden Personen kommen           sollten. Die Hemmungen waren sehr groß, diese Hilfen überhaupt           anzunehmen. 
Hilfe von der Familie
 Bis vor zehn Jahren lebten meine Schwester und ich noch zu Hause bei           unseren Eltern, wie so viele junge erwachsene behinderte Menschen. Unsere           Eltern erbrachten die benötigten Hilfeleistungen, . . . weil es           so eben am besten war. Sie badeten uns, kleideten uns an, brachten uns           auf die Toilette und zu Bett. Auch, wenn es außergewöhnlich           erschien, dass ein Vater seine erwachsenen Töchter in die Badewanne           hebt oder auf die Toilette bringt. Das war für uns kein Problem:           Eltern stehen ihren Kindern nahe und für unsere Eltern war es selbstverständlich,           dass sie für ihre - wenn auch bereits erwachsenen - Kinder da sind.           Über die Jahre entwickelte sich in unserer Familie ein starker           Zusammenhalt, da ein Abnabelungsprozess, wie zwischen nicht behinderten           erwachsen werdenden Kindern und Eltern üblich, bei uns einfach           nicht stattfand. 
	          Damals lehnte ich Hilfe, die mir Freunde, Bekannte und Verwandte anboten,           ab. Ich wollte nicht von „anderen" gehoben werden. Einerseits           aus Angst, dass sie nicht richtig zugreifen und ich fallen würde,           andererseits war mir der Gedanke an die körperliche Nähe nicht           gerade angenehm. Ich wollte nicht, dass mich andere berührten oder           anfassten. So nahm ich manche Einladung nicht an, weil ich nicht wollte,           dass z. B. mein Cousin mir beim Aufsuchen der Toilette behilflich ist.           Damit stieß ich allgemein auf großes Unverständnis,           die Helfer meinten es doch nur gut und mein Verhalten sei albern! Meine           Schwester und Eltern verstanden mich, wenn auch beide aus unterschiedlicher           Sichtweise: Meine Schwester wusste, wie unangenehm die Hilfe von „Fremden",            gerade bei intimen Dinge, ist. Mein Vater dagegen glaubte, kein anderer           als er beherrscht die richtige Hebetechnik und war deshalb skeptisch,           wenn Unbeteiligte einspringen wollten.
Später wurde mein Vater schwer krank und starb. Plötzlich           trug meine Mutter die Belastung für unsere Versorgung allein. Das           war natürlich nicht zu schaffen und wir machten uns das erste Mal           Gedanken darüber, Hilfe von „Fremden", von Pflegekräften           eines ambulanten Dienstes, anzunehmen. Die Einsätze des ambulanten           Pflegedienstes waren zeitlich festgelegt. Es wurden täglich zur           gleichen Zeit die gleichen Hilfeleistungen erledigt. 
Die ersten Fremden 
 Es fiel weder meiner Mutter noch mir leicht, diesen Schritt zu tun.           Aber er war unumgänglich. Sie wollte eigentlich niemanden in ihrer           Wohnung täglich ein- und ausgehen sehen. Personen, die sie zwangsläufig           akzeptieren musste, die zwangsläufig in ihre Privatsphäre           eindrangen. Die vertraulich taten, die wir aber gar nicht kannten. Sie           konnte nur schwer damit umgehen, fühlte sich selbst als beobachtetes           Objekt und nicht mehr als Hausherrin. Sie spürte die Beurteilung           und Bewertung ihrer Wohnungseinrichtung, ihres Handelns und ihrer Lebensweise,           ob bewusst oder unbewusst durch das ständig wechselnde Personal.            
Am Anfang erging es mir nicht viel anders. Ich hatte große Hemmungen           und es war mir sehr unangenehm, immer wieder zu erklären, wie sie           mich waschen, anziehen und in den Rollstuhl umsetzen sollten. Oft hatte           ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, warum ich dies           und das nicht allein konnte. War mir eine Pflegekraft nicht so sympathisch,           verstärkte sich dieses Gefühl noch. Oft musste ich unnachgiebig           sein, um mich durchzusetzen, wenn eine Pflegekraft der Meinung war,           so wie sie es machen will, ist es doch viel besser. 
Menschen, die mir nicht vertraut waren, nahmen meine Kleidung aus meinem           Schrank, sahen alles und hörten vieles. Ich fühlte mich als           öffentliche Person, ohne Intimsphäre und ohne privaten Raum.           Manches Mal musste ich mich rechtfertigen, warum ich ausgerechnet heute           diese Hose oder diesen Pullover anziehen wollte. Sicher ist so etwas           nur eine Kleinigkeit, aber nicht behinderte Menschen rechtfertigen sich           deswegen auch nicht. Sie kommen nicht in diese Situation, weil sie ihre           Kleidung selbst aus dem Schrank nehmen und sich selbständig anziehen.
Glücklicherweise hatte ich mit der Pflegedienstleiterin von vornherein           vereinbart, dass wir (meine Schwester und ich) nur weibliches Personal           zu den Pflegeeinsätzen wollten. In vier Jahren passierte es nur           ein einziges Mal, dass aufgrund akuten Personalmangels ein Zivi zu uns           geschickt wurde. Die gesamte Grundpflegeprozedur war für uns beide           eine Tortur. Aber sollte ich den ganzen Tag ungewaschen im Bett bleiben?           Obwohl ich diesen Zivi schon einige Monate kannte und wir einen „guten           Draht" zueinander hatten, machte ich ihm doch zu Beginn klar,           dass mir diese „Situation" nicht gefällt, es aber nichts           mit ihm persönlich zu tun hat. Er war über meine Offenheit           sehr erleichtert, weil es ihm ganz genauso ging. Auch er wünschte           sich zu diesem Zeitpunkt lieber ganz woanders hin! Mit älteren           Frauen und Männern hatte er schon Erfahrung, aber mit einer jungen           Frau . . . da kam er ganz schön ins Schwitzen. 
Endlich das Arbeitgebermodell
 Durch das Arbeitgebermodell habe ich jetzt die Wahl und mich dafür           entschieden, dass ich nur weibliches Personal einstelle. Aus den Bewerberinnen           kann ich speziell für mich geeignete Assistentinnen auswählen           und einarbeiten. Es ist nicht nur wichtig, dass jede Assistentin die           Anweisungen meinen Bedürfnissen entsprechend ausführt, Sympathie           und ein gutes Miteinander spielen dabei natürlich eine große           Rolle. Es ist eine vertrauliche Stellung, denn die Assistentinnen halten           sich in meiner Privatsphäre auf. Sie waschen und kleiden mich an,           sie bringen mich auf die Toilette. Sie kochen nach meinen Anweisungen,           waschen das Geschirr ab, waschen und bügeln die Wäsche. Sie           öffnen die Wohnungstür, wenn es klingelt, holen meine Post           aus dem Briefkasten, gehen mit mir zur Sparkasse und begleiten mich,           wenn ich Termine habe oder ins Kino oder Konzert gehe. All das ist mit           sehr großer Nähe verbunden, nicht nur im körperlichen           Sinne. Deshalb ist es für mich von großer Bedeutung, darauf           zu achten, dass eine gewisse Distanz gewahrt wird. 
Obwohl die Assistentinnen mich waschen und ankleiden, sage ich ihnen           genau, wie das geschehen soll, wähle ich meine Kleidung für           den Tag selbst aus. Die Meinung oder der Geschmack der Assistentinnen           spielt dabei keine Rolle. Obwohl die Assistentinnen die Wohnungstür           öffnen, lassen sie ohne meine Erlaubnis niemanden in meine Wohnung           und bieten den Besuchern weder einen Platz noch Getränke an. Das           ist meine Aufgabe. Obwohl sie meine Post aus dem Briefkasten nehmen,           sortieren sie die nicht und entscheiden z. B. nicht, ob und welche Werbung           weggeworfen wird. Als Begleitung zu Terminen halten sich die Assistentinnen           im Hintergrund, die Gesprächsführung liegt bei mir. Sie dürfen           sich nicht einmischen. Sie unterstützen meine Lebensweise praktisch,           aber ich entscheide meine Angelegenheiten allein und rechtfertige mich           deswegen nicht mehr. 
Zeitweise ist es schwierig, trotz der allzu großen Nähe eine           gewisse Distanz herzustellen. Die Assistentinnen erfahren viele private           und intime Dinge von mir und über mich, aber sie gehören nicht           zu mir, nicht zu meiner Familie oder zu meinem Freundeskreis. Ich fühle           mich als öffentliche Person, da sich ständig eine Assistentin           in meiner Nähe, in meiner Wohnung aufhält. Aber sie sind Gast           in meiner Wohnung und so bewegen sie sich auch. Sie erleben mich in           jeder Lebenslage, ob es mir gut oder schlecht geht, ob ich eine gute           oder schlechte Nachricht erhalte, ob ich mich wohl fühle, streite,           traurig oder ungerecht bin. All das wird von den Assistentinnen, die           zwangsläufig mit meinem Leben zu tun haben, registriert und insgeheim           mit Sicherheit auch bewertet. 
Das ist ein Zustand, den ich grundsätzlich nicht ändern kann.           Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, mit Assistenz zu leben. Ich brauche           diese Hilfe- bzw. Assistenzleistungen, um ein normales und selbstbestimmtes           Leben nach meinen Vorstellungen führen zu können. 
Leipzig im Juni 2003