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29.09.2016 Wie kann man im Unrecht nur so auftreten?

Wie kann man im Unrecht nur so auftreten?

Gedanken zur ersten Lesung des Bundesteilhabegesetzes im Deutschen Bundestag

Der Bundestag lieferte am Donnerstag, 22.09.2016, eine Lesung der besonderen Art. Die Abgeordneten der Großen Koalition verteidigten vor einem spärlich besetzten Plenum und ohne die meisten Regierungsmitglieder das Bundesteilhabegesetz, obgleich sie - teils auch noch mehrfach - bereits vor Jahrzehnten weitergehende Forderungen selbst erhoben haben. In ihrer hilflosen Argumentation waren sie sich nicht zu schade, die Opposition zu beschuldigen, behinderte Menschen gegen die Regierung aufzuhetzen. Aus vielen Stellungnahmen, aber sicherlich auch aus eigenem Wissen muss ihnen klar sein, dass sie mit dem Gesetzentwurf nicht nur die in Deutschland als unmittelbar geltendes Recht gültige Behindertenrechtskonvention gröblich verletzen, sondern auch unsere Verfassungsrechte! Vielleicht deshalb auch der teils rüde Ton gegenüber der Opposition und die verschiedentlichen Streicheleinheiten für die Sozial-ministerin, der Sozialdemokratin Andrea Nahles, MdB, und deren Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller, MdB, ebenfalls eine Sozialdemokratin.

Diese Bundesregierung ist auf dem Weg, eine Großchance zu ignorieren!

Im Jahre 2016 könnten wir auf einem Schlag mit einem modernen Leistungsgesetz die Nachkriegszeit-Fürsorge über Bord werfen. Selten hatte eine Regierung so viel rechtlichen Rückenwind wie zum Beispiel durch unsere Verfassung und die Behindertenrechtskonvention. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach seit 1994 in durchaus ähnlichen Formulierungen festgestellt, wann ein Gesetz unsere Verfassung verletzt. Beispielsweise am 10.10.2014: "Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen" (Az.: 1 BvR 856/13). Solange behinderte Menschen per Gesetz schlechter gestellt werden als nicht behinderte, sind diese Gesetze also verfassungswidrig!

Selten hatte eine Regierung auch eine so große Mehrheit im Parlament. Und selten hatte sie durch siebenjährige Anhörungen, Debatten, Stellungnahmen einen so großen Informationshintergrund.

Und was hat die Regierung daraus gemacht?

Sie haben uns beschäftigt! Sie haben uns glauben lassen, dass das, was wir unzählige male persönlich oder schriftlich vorgetragen haben, für sie interessant sei. Sie ließen uns in dem Glauben, dass am Ende dieser Legislaturperiode ein Bundesteilhabegesetz steht. Sie haben vermutlich gar über unsere Mühen (es waren oft wirklich welche!) zumindest gelächelt, vielleicht sogar herzhaft gelacht. Sie haben nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vor Widerwärtigkeiten und Ungesetzlichkeiten nur so strotzt. Stellvertretend für alle Kritikpunkte seien hier nur vier herausgegriffen:

  • Die Bundesregierung hält am Kostenvorbehalt fest. Sie will weiterhin damit drohen, dass zu hohe Kosten im ambulanten Bereich die Weichen in Richtung Heim stellen. Dabei unterstelle ich, dass sie es besser weiß, Denn eine Heimeinweisung gegen den Willen der betroffenen Menschen kann es nicht mehr geben. Mit Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention und dem Artikel 3 unserer Verfassung sind uns zwei starke Schutzschilde gegeben. Diese müssen zwar auch von den Kostenträgern berücksichtigt werden. Die Verlockung, es nicht zu tun, wird mit Kosteneinsparungen belohnt. Gewinnt der behinderte Mensch nach Jahren seinen Prozess, hat der Kostenträger in der Regel keine Nachzahlung zu leisten, da selten jemand so viel Kredit bekommt, um die erforderliche Hilfe vorfinanzieren zu können. Und so bleibt der Mensch ohne die erforderliche Hilfe in seiner Notlage allein. Er wird über Jahre seines vielleicht ohnehin kürzeren Lebens vom Leben in der Gemeinschaft ferngehalten. Kann natürlich auch sein, dass er längst hinter Anstaltsmauern verschwunden ist. Der Weg zurück ist damit fast unmöglich geworden.
  • Mit der Assistenz eng verknüpft ist das Wohnungsproblem. Zieht ein behinderter Mensch von zu Hause oder aus einer Einrichtung aus, benötigt er zeitgenau eine passende Wohnung. Es ist nahezu aussichtslos, die Assistenz und die Wohnung gleichzeitig geregelt zu bekommen. In Hessen brauchte ein junger Mann zehn Jahre (!), um sich gegen die geballte, zu Allem entschlossene Macht des kommunalen Sozialhilfeträgers und des dortigen Landeswohlfahrtsverbandes den Auszug aus einem Heim zu erkämpfen. Er hat dies zu Beginn des Jahres 2014 in einem Vergleich geschafft … und lebt heute noch in dieser Anstalt. In diesen Tagen hat es nun endlich auch mit einer Wohnung geklappt. Diese ist im Bau und kann vermutlich im Frühling 2017 bezogen werden. Der Mann hat eine Muskelerkrankung und damit ohnehin eine vermutlich eingeschränkte Lebenserwartung. Ãœber 13 Jahre hinweg wurde er daran gehindert, am Leben inmitten unserer Gesellschaft in gleicher Weise wie nichtbeeinträchtigte Menschen teilzunehmen. Solange es keine eindeutige Finanzierung von Assistenzleistungen durch den Bund gibt, werden auch barrierefreie Wohnungen Mangelware bleiben. Denn die Kommunen befürchten, dass mit jeder weiteren barrierefrei ausgestatteten Wohnung auch weitere Kosten für sie entstehen.
  • Auch die weitere Wegnahme von Einkommen und Vermögen der betroffenen beeinträchtigten Menschen ist durch die Behindertenrechtskonvention und den Artikel 3 GG nicht gedeckt. Nach einer belegbaren Berechnung von ForseA hat der Staat seit dem 01.12.2011 fast 2,5 Milliarden Euro dafür ausgegeben, um durch die Anrechnung von Einkommen und Vermögen der Betroffenen jährlich 12 Millionen Euro einzunehmen. Das ist es unserem Staat wert, seine beeinträchtigten Menschen, immerhin ja auch Bürger dieses Landes, von der Inanspruchnahme von gesetzlich verbrieften Nachteilsausgleichen abzuschrecken. Durch die Anhebung der Freibeträge wird der eigentliche Prüfungsbedarf nicht geringer. Das Verhältnis von Aufwand und "Ertrag" gestaltet sich dadurch nur noch ungünstiger.
  • An der Verteilung der Macht zwischen Kostenträger und Antragstellern ändert sich durch diesen Gesetzentwurf überhaupt nichts. Die antragstellenden Bürger werden nach wie vor den Macht-Routinen der Sozialämter schutzlos ausgeliefert. Schutzlos deshalb, weil die Rechtsmittel angesichts der Notlage, in der sich diese Menschen befinden, oft zur Farce verkommen. Wie will man reagieren, wenn der Kostenträger begründungslos nur einen Bruchteil des Bedarfes anerkennt? Wenn er die Stundenlöhne deckelt und es damit unmöglich macht, eine dauerhafte angemessene Assistenz sicherzustellen? Oder wenn er aus heiterem Himmel Leistungen kündigt und nur noch befristete Leistungen anbietet? Menschen, die bereits seit Jahrzehnten behindert sind, geraten so alle paar Monate in eine desaströse Existenzangst.

Das sind nur vier Punkte, anhand derer jedoch deutlich wird, dass sich hier der Gesetzgeber in einer Welt befindet, die mit der Realität im Land wenig zu tun hat. Oder wie ist es zu erklären, dass Frau Ministerin Nahles so unverfroren von einem Quantensprung parlieren kann? Oder dass Frau Dr. Astrid Freudenstein, SPD-MdB, sich beklagt, dass die Opposition eine vermeintlich unangemessene Schärfe in die Debatte bringt. Geradezu grotesk wurde es, als Karl Schiewerling, CDU/CSU-MdB, der Opposition vorwarf, die Lebenssituation der Menschen zu skandalisieren, mit den Emotionen von Menschen mit Behinderung zu spielen, sie in die falsche Richtung zu lenken und dafür auch noch Beifall der Sozialdemokraten erhielt. Er fühlte sich auch befugt, unsere Forderungen nach Rückgabe unserer Menschenrechte als Wünsche, die nicht alle befriedigt werden können, zu bezeichnen. Als abschließend ein sichtlich gut gelaunter Uwe Schummer, CDU/CSU-MdB, an das Rednerpult trat, fragten sich viele, worauf sich diese Heiterkeit bezog. Wollte er damit seine Verlegenheit kaschieren, hier einen Gesetzentwurf verteidigen zu müssen, dessen Unlauterkeit bereits mit dem Titel und der Einleitung deutlich wird? Für die Schärfe der Kritik ist alleine die Regierung und die sie tragenden Parteien verantwortlich. Von den Debattenrednern der Koalition werden Ursache und Wirkung verwechselt! Die Opposition hat ein offenes Ohr für unsere - teils von Verzweiflung geprägten - Aktionen. Die Regierungsparteien dagegen haben das routinierte Weghören bereits zur Perfektion entwickelt. Sonst könnten sie längst nicht mehr diesen Entwurf feiern. Die Regierung wurde auf das Volk vereidigt. Zehn Millionen behinderte Menschen - und mindestens noch mal so viele Angehörige - warten darauf, dass sie ihrem Eid endlich gerecht werden!

Dieser Text wird ebenfalls wie die die beiden untenstehenden Texte an die Damen und Herrn Abgeordneten des Deutschen Bundestages in den Bundestags-Ausschüssen Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Haushalt verteilt.

Hollenbach, 29.09.2016

Gerhard Bartz
Vorsitzender ForseA e.V

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