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Bedarfsermittlung anno 2008 in Sachsen

Hier wird im Folgenden ein Budgetverfahren geschildert, wie es anno 2008 (!) in Sachsen noch vorkommt

von Jens Merkel

Im Frühjahr des Jahres 2008 hörte eine Frau aus Sachsen etwas von einem Persönlichen Budget. Sie dachte sich gleich: „Jetzt kann ich vielleicht wieder ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden führen und muss nicht immer einen Nachbarn oder gar eine mir wildfremde Person anbetteln." Also rief sie einen Menschen an, der sich zumindest etwas mit dem Thema Persönliches Budget auskennt. Die zwei setzten sich zusammen und sprachen im Groben über ihren Bedarf. Welche Zeit benötigt sie für Pflege, welche Zeit für Hauswirtschaft und was der Frau sehr wichtig war, welche Möglichkeiten bestehen für sie, wieder mehr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Budgetberater nimmt ihre Wünsche auf und errechnet dazu an Hand von einem von der Frau geführtem Pflegetagebuch und den wirklichen Bedarfen bei der Pflege der Frau eine Kalkulation für einen Antrag auf ein persönliches Budget bei dem Sozialamt der zukünftigen Budgetnehmerin.

Diesen Antrag erhält das Sozialamt zusammen mit der vorläufigen Kalkulation Anfang Mai diesen Jahres.

Nach mehreren Schriftwechseln zwischen zukünftiger Budgetnehmerin und dem Sozialamt kommt es nach sage und schreibe einem halben Jahr zu einer ersten "Budgetkonferenz". Daran beteiligt sind die künftige Budgetnehmerin, ihre Betreuerin, der Budgetberater sowie zwei Sachbearbeiterinnen des Beauftragten (Sozialamt). Als erstes gibt es eine kurze  Vorstellungsrunde und danach geht es zur Sache. Die Budgetnehmerin wird als erstes gefragt, weshalb sie einen Antrag auf ein Persönliches Budget gestellt hat. Dieses erläutert sie nochmals. Jetzt macht eine der beiden Sachbearbeiterinnen Ausführungen zum reinen Pflegebedarf und liest in diesem Zusammenhang ein Schreiben der Pflegekasse vor, in dem es unter anderem sinngemäß heißt: „Die Budgetnehmerin kann sich bei ihr festgestellten Pflegebedarfe über Sachleistungen bei Pflegediensten über ein Budget einkaufen". Das muss allerdings über Gutscheine erfolgen. Aber genau dieses will die Frau nicht. Sie möchte sich lieber eigene Assistenten einstellen und damit ihre Pflege und sonstigen Bedarfe sicherstellen. Auf Nachfrage des Budgetberaters, wie es mit der Bedarfsfeststellung für die gesamten Leistungen aussieht, antwortet die Sachbearbeiterin: „Erst die Pflege und da ist der Bedarf festgestellt, nämlich durch den MdK. Dieses Gutachten zählt für uns als Sozialamt. Wir haben hier auch keinen Spielraum, denn der Amtsarzt als ’hauseigener‘ Gutachter lehnt eigene Gutachten seit neuestem ab und verweist auf die entsprechenden MdK-Gutachten". Auch wenn das SGB XII im Gegensatz zur Pflegeversicherung im SGB XI bedarfsdeckend sein soll und die Frau natürlich Leistungen nach SGB XII beantragt hat, verweisen die Sachbearbeiterinnen des Sozialamtes immer wieder nur auf das MdK-Gutachten.

Nun wird schließlich auf Drängen des Budgetberaters versucht, den Bedarf für Teilhabeleistungen anhand des Pflegetagebuches festzustellen. Aber leider bleibt es bei dem Versuch. Die Frau muss als erstes genauestens erläutern, an wie viel und welchen Veranstaltungen sie in welchem Zeitraum teilnehmen möchte. Dieses tut sie auch nach besten Wissen und Gewissen. Da wäre einmal in der Woche der Gottesdienst, einmal die Woche eine andere Veranstaltung, wie z.B. Kino oder Theater. Diese werden von den Sachbearbeiterinnen mit genauen Zeitvorgaben akzeptiert. Auch kleine Termine werden abgehakt. Erste Probleme kommen beim Einkaufen auf. Diese Zeiten sind in den 45 Minuten tägliche Hauswirtschaft mit enthalten, die über die Pflegeversicherung finanziert werden. Punkt, Aus und Schluss. Ein nächstes Problem taucht mit den benötigten Bedarfen bei Arztbesuchen auf. Hier schiebt das Sozialamt der Krankenkasse den „Schwarzen Peter" zu. Also muss die Budgetnehmerin nochmals ein Schriftstück aufsetzen, in dem sie erläutert, wie viel Zeit sie für welche Arztbesuche benötigt. Der Beauftragte (Sozialamt) wird die Krankenkasse um eine Stellungnahme bitten.

Wenn die Krankenkasse die eigentlichen Pflichtleistungen nicht budgetfähig stellt, solle die Frau sich doch die Ärzte nach Hause holen lassen. Auf die Bemerkung der Frau, ob ein Zahnarzt evtl. mit einer Bohrmaschine kommen soll, kommt von Seiten des Sozialamtes nur ein Achselzucken. Aber zurück zu den Teilhabeleistungen! Auf Nachfragen der Betroffenen, was denn mit den Bedürfnissen und damit Bedarfen nach Begleitung beim Spazierengehen, bei Einkaufsbummeln und ähnlichen Dingen ist, kam vom Beauftragten die Antwort: „Spazierengehen und Einkaufsbummel sind NICHT Bestandteile von Teilhabe an der Gemeinschaft."

Dazu zitieren sie den § 58 SGB IX, in dem „nur" Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen und Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen, vorgesehen sind.

Also wenn man hier genau nach dem Gesetzestext geht, darf sich diese Frau eigentlich nur noch die Begleitung zur Förderung der Begegnung mit NICHTBEHINDERTEN Menschen genehmigen lassen und die Begegnung mit BEHINDERTEN Menschen, vielleicht in einer ihrer Selbsthilfegruppen, ist demnächst gestrichen. Was für ein Hohn, aber nach Gesetz!

Aber noch mal zurück zur Bedarfsermittlung. Nach einer ca. 2 1⁄2-stündigen für alle anstrengende Zusammenkunft steht auf dem Papier nach wie vor nur der festgestellte Pflege- und Hauswirtschaftsbedarf gemäß MdK-Gutachten. Hinzu kommt ein noch nicht zusammengerechneter „Bedarf" für Teilhabe, der nicht wirklich den wahren Bedarf einer Frau aufzeigt, die sich vor einem halben Jahr schon gefreut hat, endlich wieder einfach nur IHR Leben zu leben. Aber die Frau hat trotz aller Schwierigkeiten angekündigt, gemeinsam mit dem Budgetberater sich IHRE Rechte zu erkämpfen. Dass ihr WIRKLICHER Bedarf in der Zielvereinbarung steht, wird leider erst Wahrheit werden, wenn es uns allen gelungen ist, ein wirkliches BEDARFSDECKENDES ASSISTENZ- UND TEILHABEGESETZ durchzusetzen, das seinen Namen auch verdient.

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