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Gedanken zum Jahreswechsel 2003/2004

Gedanken zum Jahreswechsel 2003 / 2004

Grafik: Die Jahreszahl 2004 unterlegt mit vielen FragezeichenLiebe Mitglieder von ForseA,
liebe Leserinnen und Leser,

es ist soweit: Das Jahr 2003 und damit das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen ist vorüber. Am Jahresende wird in der Regel Bilanz gezogen. Dies möchte ich mir und Euch/Ihnen an dieser Stelle ersparen, denn das ist sowohl im letzten INFORUM als auch auf unserer Homepage schon geschehen.

Wichtiger ist der Blick in das Jahr 2004. Je nach Mentalität und persönlicher Situation sind solche Ausblicke mal mehr von Hoffnung und Zuversicht oder aber von Ängsten und düsteren Prognosen geprägt. Natürlich hoffen wir alle, in zwölf Monaten auf ein überwiegend positives 2004 zurück blicken zu können, allen Unkenrufen um Trotz. Auch ich möchte nicht mit düsteren Prophezeiungen negative Stimmung verbreiten. Doch die Unken quaken zu laut. Angesichts der Gesetzes"reformen", die mit Jahresbeginn in Kraft treten bzw. der Gesetzesvorhaben wie das SGB XII, finde ich beim besten Willen keinen Anlass zur Euphorie.

Natürlich wäre es vermessen zu glauben, dass es überall Einschnitte gibt und nur behinderte Menschen von diesen verschont bleiben. Dass aber behinderte Menschen wie so oft überproportional von den Einschnitten und Einsparungen betroffen sein werden, können und wollen wir nicht akzeptieren. Von Chancengleichheit kann, trotz des vielfach propagierten Paradigmenwechsels, der im Übrigen – wenn überhaupt – den Leistungs- sprich Arbeitsfähigen unter uns zugute kommt, wohl kaum die Rede sein. Oder ist es chancengleich, wenn etliche Leistungen nach dem SGB IX wie zum Beispiel Kraftfahrzeughilfe nur Berufstätigen gewährt werden? Ist es chancengleich, wenn nur Arbeitsassistenz einkommens- und vermögensunabhängig geleistet wird, die Assistenz im Privatbereich jedoch nicht? Ist es chancengleich, wenn dadurch berufstätige Menschen mit Behinderungen einen nicht unerheblichen Teil ihres Einkommens für die Finanzierung der Assistenz einsetzen müssen, also nicht wie die nicht behinderten Kolleginnen und Kollegen über ihr Einkommen verfügen können? Wer das behauptet, gibt sich zumindest der Lächerlichkeit preis.

Die Kürzungswut verschont sogar die Ärmsten nicht. So müssen selbst Heimbewohnerinnen und -bewohner ab Januar Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln leisten. Dabei verfügen sie im Monat über „Taschengelder", von denen andere nicht einmal eine Übernachtung in einem Hotel bezahlen können. Mit diesen Taschengeldern müssen Heimbewohnerinnen und -bewohner alles jenseits der Grundversorgung finanzieren: Telefonkosten, Getränke außerhalb von Mahlzeiten, Zeitungen, Bücher, Körperpflegemittel, Kino-, Theater- und sonstige Eintrittskarten, den Frisör und, und, und…. Jeder Euro an Zuzahlung ist für sie eine Zumutung.

Hier kann man das in der Politik beliebte Spiel „Linke Tasche, rechte Tasche" unmittelbar erleben: Aus der Sozialhilfe bezogenes Taschengeld wird per Krankenversicherungszuzahlung wieder zurückgeholt. Im Januar wird die Praxis so aussehen: Ein behinderter Heimbewohner erhält (Beispiel Baden-Württemberg) 83 Euro so genanntes Taschengeld. Den Zusatzbarbetrag, der dieses Taschengeld auf bis etwa 140 Euro aufstocken kann, bekommt er nicht, weil er weder eine Rente bezieht noch in einer Werkstätte arbeitet. Da noch nicht feststeht, ob er künftig zu den chronisch Kranken zählt, muss er zwei Prozent seines Bruttojahreseinkommens, gleich rund 72 Euro, jährlich an Zuzahlung leisten. Er benötigt im Januar verschiedene Medikamente und Heilmittel und erreicht dadurch die Zuzahlungsgrenze, so dass ihm gerade noch 11 Euro für den gesamten Monat verbleiben. Er muss dann zwar für den Rest des Jahres keine weiteren Zuzahlungen leisten, doch der Januar ist lang…

Doch auch frei lebende behinderte Menschen verfügen häufig über geringe Einkommen. Sie trifft das Gesundheits"modernisierungs"gesetz (was bitte, wird hier modernisiert, die Gesundheit doch wohl nicht), ebenfalls besonders hart. Da nützt auch die Überforderungsklausel für chronisch Kranke nicht viel, denn noch steht nicht fest, wer künftig als chronisch krank definiert wird. Viele dieser behinderten Menschen können sich aufgrund ihrer geringen Einkommen kein eigenes Fahrzeug leisten. Über den nicht flächendeckenden öffentlichen Personenverkehr muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Doch wie kommen behinderte Menschen, die weder über ein eigenes Fahrzeug verfügen, noch den öffentlichen Personenverkehr nutzen können, künftig zu ambulanten Behandlungen oder Therapien? Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nur noch in seltenen Ausnahmesituationen. Laut TV-Videotext wird zwar momentan nochmals darüber verhandelt, inwieweit die Kürzungen zurückgenommen werden, doch mit welchem Ausgang ist zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss.

Auch in anderen Bereichen gibt es Einschränkungen. Die Rentenreform ist eine davon. Außerdem merken immer mehr behinderte Menschen, dass sie zwar mit der Grundsicherung vordergründig ein paar Euro im Monat mehr zur Verfügung haben. Doch spätestens wenn es darum geht eine neue Waschmaschine oder ähnliches zu beantragen, spüren sie die Tücken der Grundsicherung. Solche Anträge werden mit Hinweis auf die Grundsicherung „abgebügelt". Es werden keine oder nur viel geringere Zuschüsse geleistet als früher im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt mit der Begründung, solche Leistungen seien pauschal in der Grundsicherung enthalten.

Nun zur Assistenz, die ja den Kernbereich unserer Aktivitäten bildet. Wie schon in etlichen Berichten etc. beschrieben, sind Persönliche Budgets bei Politik und Verwaltung der „große Renner" der Zukunft. Angesichts der aktuellen politischen Situation besteht allerdings die Befürchtung, dass die Budgets weniger der Selbstbestimmung als der Kostenersparnis dienen sollen. Eine weitere Mogelpackung unter einem schönen Deckmäntelchen.

Sümbol für das beendete EJMB Die beabsichtigte Absenkung der Einkommensfreibeträge für diejenigen, die auf Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe angewiesen sind, setzt den Katalog der Grausamkeiten fort. Mit immer weniger zur Verfügung stehendem Einkommen müssen immer mehr Kosten bestritten werden. Noch nicht vom Tisch ist der Wegfall des Schutzes kleinen Wohneigentums als Schonvermögen. Das heißt, die selbst bewohnte Eigentumswohnung oder das kleine Haus müssen künftig eingesetzt werden, bevor es Leistungsanspruch nach dem SGB XII gibt. Wie das in der Praxis aussehen wird, wissen wir noch nicht. Wenn das Wohneigentum, das oft erst mangels barrierefreier Mietwohnungen angeschafft wurde, veräußert werden muss, bleibt die Frage, wohin die behinderten Menschen und ihre Angehörigen ziehen sollen? In nicht barrierefreie Mietwohnungen? Oder gleich ab ins Heim? Es ist pervers.

Hiermit soll die Auflistung der bevorstehenden Folgen Gesetzes"reformen" ein (vorläufiges) Ende finden. Jedes einzelne uns bevorstehende Gesetz für sich würde mit Einschränkungen verbunden sein. Da sich viele von uns ohnehin schon bis an die Schmerzgrenze einschränken müssen, sind für sie auch kleine zusätzliche Belastungen nicht mehr zu verkraften. Die Summe der Kürzungen aus dem Zusammenspiel mehrerer Gesetze ist für viele behinderte Menschen ohne dramatische Einbußen an elementarer Lebensqualität nicht mehr akzeptabel. Sie drängen diejenigen, die an ihrer Lebenssituation - Behinderung lässt sich nun mal nicht wie schmutzige Wäsche ablegen – immer weiter an den Rand der Gesellschaft. Fordern und fördern heißt die Maxime des SGB XII. Heißt fordern, die Behinderung abstreifen? Oder bedeutet sie für die Betroffenen „Pech gehabt"? Es ist blanker Hohn!

Ich frage mich, was dahinter steckt? Sehen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker die Folgen nicht? Wollen sie sie nicht sehen? Ist das verbunden mit Dummheit, die wir doch keiner und keinem von ihnen unterstellen wollen? Oder was sind sonst die Beweggründe, behinderte Menschen ins soziale Abseits zu drängen? Und welches Elternpaar entschließt sich künftig noch, ein werdendes behindertes Leben auf die Welt kommen zu lassen, wenn das den sozialen Abstieg und Armut für die gesamte Familie bedeutet?

Grafi: Logo der Aktion 'Reißt die Mauern nieder'. Es zeigt behinderte menschen vo einer durchbrochenen MauerReißt die Mauern nieder! Unter diesem Slogan wollten und wollen wir dafür kämpfen, dass behinderte Menschen das Recht bekommen, außerhalb von Einrichtungen inmitten der Gesellschaft leben zu können. Niemand gibt freiwillig Selbstbestimmung und Eigenverantwortung auf, wenn Alternativen zum Anstaltsleben genutzt werden können. Wer heute aus einer Anstalt ausziehen will, hat häufig härtere Kämpfe durchzustehen als ein Strafgefangener, der auf Begnadigung hoffen kann. Anstaltsleben bedeutet meistens lebenslänglich.

Im Gegenteil müssen immer mehr behinderte Menschen um ihr Leben in Freiheit fürchten, wenn sie es nicht ausschließlich aus eigenem Einkommen bestreiten können. Uli Lorey und Monika Bach aus Würzburg sind die besten Beispiele dafür. Sie müssen nach wie vor fürchten, ausschließlich aus Kostengründen in betreutes Wohnen abgeschoben zu werden. Auch wenn das ihnen angebotene betreute Wohnen als ambulante Versorgung deklariert wird, hat es für sie die gleichen Folgen wie eine stationäre Einweisung.

Und hier wird es schwierig. Wir plädieren stets für Wahlfreiheit. Das heißt, behinderte Menschen sollen selbst wählen können, wo und wie sie leben wollen. Schließlich will und kann nicht jede/r mit persönlicher Assistenz im Arbeitgebermodell leben. Nur eine breite Palette verschiedener Wohn- und Lebensformen kann alle Bedürfnisse befriedigen. Gleichzeitig machen wir immer wieder die Erfahrung (siehe Würzburg), dass es mit der Wahlfreiheit nicht weit her ist, wenn eine Wohnform kostenintensiver als die andere ist. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob sie geeignet ist oder nicht. Dann lässt sich auch vielen Politikerinnen und Politikern oder gar der Verwaltung, die die Kosten erstatten muss, anscheinend nicht mehr vermitteln, dass ambulant keineswegs automatisch gleichberechtigt, frei und selbstbestimmt bedeutet. Doch sollen wir uns nur noch für die persönliche Assistenz einsetzen, wohl wissend, dass dann die Schwächeren auf der Strecke bleiben? Ein Zwiespalt, der einen Abgrund darstellen kann und überbrückt werden muss. Die Brücke nennt sich Einsehen und Anerkennen der Bürgerrechte behinderter Menschen seitens der politisch Verantwortlichen.

Es kann und darf nicht sein, dass das EJMB von der Politik und Ministerialbürokratie nur als ein Täuschungsmanöver oder als ein Beschäftigungsprogramm für uns missbraucht wurde, um im Hintergrund ungestört und unbeobachtet unsere Existenzmöglichkeiten drastisch zu beschneiden.

Mit diesen (viel umfangreicher als geplanten) Ausführungen möchte ich nicht Ängste schüren, die die Zukunft nur schwarz in schwarz aussehen lassen. Doch wird es an uns liegen, durch stete Kontakte mit Politikerinnen und Politiker noch das eine oder andere Gesetzesvorhaben abzumildern, in dem wir anhand von konkreten Beispielen darstellen, wo behinderte Menschen von Kürzungen unzumutbar betroffen sind. Die Verantwortlichen in Bonn und Berlin sollen nicht sagen können „Das habe ich nicht gewusst". Und schließlich glauben wir doch an das Gute im Menschen. Oder?

Ich wünsche uns allen, dass wir am 31.12.2004 auf ein Jahr zurückblicken können, das unter dem Strich eine positive Bilanz zulässt.

Elke Bartz

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