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Urteil 098

Az.: S 56 SO 457/09 ER

Sozialgericht Hamburg

Beschluss

In dem Rechtstreit

...

- Antragsteller -
Prozessbevollmächtigte Rechtsanwälte Kanzlei Menschen und Rechte, Borselstraße 28, 22785 Hamburg

gegen

die Freie und Hansestadt Hamburg,
(vertreten durch das Bezirksamt Elmsbüttel)

- Antragsgegner -

hat die Kammer 56 des Sozialgerichts Hamburg am 3. Dezember 2009 durch den Richter .... beschlossen:

1.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 26.11.2009 bis zum 31.03.2010, jedoch nicht länger als bis zum Ende des Studiums des Antragstellers an der Universität Hamburg und nicht länger als bis zur Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung für diesen Leistungszeitraum, Kosten der Hilfe zur Pflege im Umfang von 24 Stunden täglich nach dem so genannten Arbeitgebermodell bzw. Assistenzmodell nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu übernehmen.

2.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

Der schwerstpflegebedürftige Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Übernahme der Kosten einer 24-Stunden-Assistenz.

Der Antrag ist zulässig und begründet. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die begehrte einstweilige Anordnung sind erfüllt.

Ist einstweiliger Rechtsschutz weder durch die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt noch die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes (§ 86b Abs. 1 des Sozialgerichtgesetzes (SGG) zu gewährleisten, kann nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung, vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung, vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache - möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein, d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen in den Anordnungsanspruch, mit zunehmender Eilbedürftigkeit beziehungsweise Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. ,

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich auf Grund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller, im Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008. § 88b Rdnr. 27, 29, m. w. N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig dauert, haben die Gerichte zu verhindern (vg. zuletzt: BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BR 569/05 - Ren. 26).

1.
Der Antragsteller hat als schwerstpflegebedürftiger Student dem Grunde nach Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach den §§ 53 ff. BGB XII sowie auf ergänzende Hilfe zur Pflege nach den § 61 ff. SGB XI.

a)
Da der Anspruch dem Grunde nach unstreitig ist, erübrigen sich weitere Ausführungen zur Leistungsberechtigung.

b)
Streitig sind Art und Höhe der Leistungen. Der Antragsteller begehrt Leistungen, um damit eine 24-stündige Betreuung und Hilfe durch von ihm angestellte persönliche Assistenzkräfte sicherzustellen (so genanntes Arbeitgebermodell bzw. Assistenzmodell). Ob der von dem Antragsteller behauptete Hilfebedarf besteht, kann die Kammer im Eilverfahren nicht feststellen, da hierzu die Einholung eines Pflegegutachtens notwendig Ist. Auf Grund ihres Umfangs sind derartige Ermittlungen in einem Eilverfahren nicht angezeigt und müssen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, Nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist somit über den Erlass der beantragten Anordnung anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.

c)
Der Anordnungsanspruch scheitert nicht daran, dass sich der Antragsteller auf die Unterbringung in einer stationären Einrichtung verweisen lassen muss. Es gilt der Grundsatz des Vorrangs häuslicher Pflege, § 63 SGB XII, sowie der Vorrang ambulanter Leistungen, § 13 Abs. 1 S.2 SGB XII. Aus § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII ergibt sich, dass die ambulante Pflege auch durch professionelle Pflegekräfte erfolgen kann, die gemäß § 66 Abs. 4 S. 2 SGB XII auch vom Pflegebedürftigen angestellt werden können (so genanntes Arbeitgeber- oder Assistenzmodell).

Der Vorrang der ambulanten Leistungen ist auch nicht nach § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII ausgeschlossen. Die Durchbrechung des Vorrangs der ambulanten Leistungen erfordert gem. § 13 Abs. 1 S. 5 SGB XII, die individuellen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Die angemessene Berücksichtigung setzt denknotwendig voraus, dass eine bestimmte Einrichtung konkret benannt wird (vgl. Krahmer, in: SGB XII, Lehr- und Praxiskommentar, 8. Aufl. 2008, § 13 Rn. 9). Die Verursachung von gegenüber stationären Leistungen unverhältnismäßigen Mehrkosten ist dagegen gem. § 13 Abs. 1 S, 4 bis 6 SGB XII erst zu prüfen, wenn die Pflege in der geeigneten stationären Einrichtung zumutbar im Hinblick auf den Hilfebedarf des Pflegebedürftigen ist.

Eine geeignete Pflegeeinrichtung, in der der Hilfebedarf des Antragstellers unter Berücksichtigung seiner berechtigten persönlichen Bedürfnisse und seiner Fähigkeiten, insbesondere seiner Ausbildung, sachgerecht gedeckt werden könnte, ist nicht ersichtlich. Die Antragsgegnerin kann eine konkrete kostengünstigere und geeignete Unterbringungs- oder Pflegeeinrichtung, die den berechtigten Wünschen des Antragstellers und seinem Hilfebedarf Rechnung trägt, derzeit nicht benennen. Sie hat zwar zunächst eine Einrichtung, ... benannt. Ob der Verweis auf diese Einrichtung dem Antragsteller zumutbar wäre, ist mit Blick auf Art. 19 der von Deutschland ratifizierten und 2009 in Kraft getretenen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2008 fraglich. Die Frage kann jedoch dahinstehen, da dem Antragsteller in dieser Einrichtung kein Platz mehr zur Verfügung steht. Aus diesem Grunde muss es vor liegend bei dem Grundsatz des Vorrangs von ambulanten Leistungen bleiben.

Ob im vorliegenden Fall unverhältnismäßige Mehrkosten durch das von dem Antragsteller gewünschte Assistenzmodell entstehen, kann somit dahinstehen.

Der Antragsteller kann schließlich auch nicht auf Sachleistungen des § 36 SGB XI verwiesen werden, denn dies wird durch § 66 Abs. 4 S. 2 SGB XII ausgeschlossen, wenn der Pflegebedürftige - wie hier - die Pflege durch von ihm beschäftigte besondere Pflegekräfte sicherstellen will.

d)
Bei der Auswahl der Leistungen sind die Leistungsgrundsätze des SGB XII zu beachten. Ist ambulante Hilfe und Pflege durch Pflegepersonen zu gewähren, ist die geeignete Hilfeleistung vom Sozialhilfeträger nach seinem Ermessen zu wählen. Dabei kommt auch die Übernahme der Kosten für die Einstellung persönlicher Assistenzkräfte in Betracht (vgl. Bieritz-Harder, in: SGB XII, Lehr- und Praxiskommentar, 8. Aufl., 2008, § 54 Rdnr, 57). Ob dies im vorliegenden Fall die einzige geeignete Leistung darstellt, so dass das Ermessen des Sozialhilfeträgers "auf Null" reduziert wäre (vgl. dazu Bieritz-Harder, a. a. O., Rdnr, 67), kann die Kammer derzeit nicht beurteilen, da dies vom Ergebnis der durchzuführenden Begutachtung abhängt.

Im Rahmen der notwendigen Folgenabwägung sind der Antragstellerin gleichwohl vorläufig Leistungen für die Assistenzkräfte zuzusprechen. Denn die Kammer hält die nachteiligen Folgen, die dem Antragsteller durch eine vorläufige Verweigerung dieser Leistungen und das Abwarten auf eine Hauptsacheentscheidung drohen, für schwerwiegender als die mit einer möglicherweise unberechtigten Leistungsgewährung verbundenen Belastungen für den Leistungsträger. Dem Antragsteller droht ohne die begehrten Leistungen eine Verletzung seines grundrechtlich und völkervertraglich geschützten Rechts auf Führung eines menschenwürdigen und benachteiligungsfreien Lebens, da er auf die Beschäftigung von Assistenzkräften verzichten und entweder die Unterbringung in einer die persönliche Freiheit beschränkenden stationären Einrichtung oder die Gefahr unzureichender Pflege in Kauf nehmen müsste. Umso schwerer wiegt dieser Eingriff, als damit auch die unbehinderte Durchführung des Studiums und damit das Eingliederungsziel des weiterführenden Hochschulabschlusses gefährdet wäre. Zur Verhinderung dieser gravierenden Nachteile hält die Kammer den Erlass einer einstweiligen Anordnung für erforderlich.

Die Höhe der zu bewilligenden Leistungen erfolgt auf Grundlage der vom Antragsteller vorgelegten Berechnung, die zumindest nicht unplausibel scheint. Ob die vom Antragsteller im Verfahren geltend gemachten Kosten von monatlich ca. 11.728,27 € angemessen sind im Sinne des § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII, wird die Antragsgegnerin zu prüfen haben und wird ggf. im Hauptsacheverfahren zu überprüfen sein. Jedenfalls ist auf den Betrag das von der Pflegekasse nach § 37 SGB XI gewählte Pflegegeld in Höhe von 675 € anzurechnen, § 66 Abs. 4 S. 3 SGB XII.

e)
Die tenorierten Leistungen sind dem Antragsteller ab dem 26.11.2009 zu gewähren, denn nur insoweit besteht ein Anordnungsgrund.

Ein Anordnungsgrund ist nur dann gegeben, wenn sich aus den glaubhaft gemachten Tatsachen ergibt, dass es die individuelle Interessenlage des Antragstellers - unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter - unzumutbar erscheinen lässt, den Antragsteller zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Ob die Anordnung derart dringlich ist, beurteilt sich insbesondere danach, ob sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile und zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen, ebenso schwerwiegenden Gründen nötig erscheint. Dazu müssen Tatsachen vorliegen beziehungsweise glaubhaft gemacht sein, die darauf schließen lassen, dass der Eintritt des wesentlichen Nachteils im Sinne einer objektiven und konkreten Gefahr unmittelbar bevorsteht (vgl. Keller, SGG Kommentar, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 27a).

Ein Anordnungsgrund besteht für die Leistungen ab 26.11.2009, da dem Antragsteller bis zum 25.11.2009 bereits Leistungen im Wege der Notfallversorgung bewilligt wurden.

Die Leistungen sind vorerst bis zum 31. März 2010 zu erbringen, da dieser Zeitraum ein Semester umfasst und nach Ablauf dieses Semesters Anlass und Gelegenheit besteht, Grund und Höhe der vorläufiger Leistung zu überprüfen.

2.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde zulässig.

Sie ist binnen eines Monats nach seiner Bekanntgabe schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim

Sozialgericht Hamburg,
Kapstadtring 1,
22297 Hamburg,

oder schriftlich bei der Gemeinsamen Annahmestelle für das

Landgericht Hamburg, das Amtsgericht Hamburg und weitere Behörden,
Sievekingplatz 1,
20355 Hamburg,

einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem

Landessozialgericht Hamburg,
Kapstadtring 1,
22297 Hamburg,

schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

gez ... Vorsitzender

Ausgefertigt
Hamburg, den 03.12.2009
als Urkundsbeamter/In der Geschäftsstelle

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