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Das Persönliche Budget oder warum man es außerhalb der Startlöcher selten antrifft

Das Persönliche Budget

oder

warum man es außerhalb der Startlöcher selten antrifft

Das Persönliche Budget, ob einfach oder trägerübergreifend, hat es in Deutschland bislang noch nicht in durchgehende Gebrauchsfähigkeit geschafft. Hierfür gibt es viele Ursachen. Eine wesentliche sind seine Gegner: In den Reihen der Kostenträger kann man mit der Philosophie des PersönlichenBudgets überhaupt nichts anfangen, weil sie mit dem Nachkriegsfürsorgegedankennicht kompatibel ist. Manche Kostenträger rühmen sich gar, noch gar kein Budget vereinbart zuhaben. Lokalpolitiker wie beispielsweise ein  unterfränkischer CSU-Politrentner, der seine frühere berufliche, von Menschen mit Behinderung als Diskriminierung empfundene Arbeit seit Jahrennun ehrenamtlich weitertreiben darf, bedanken sich in der Presse, dass behinderte Menschen ihre Rechte nicht wahrnehmen und somit die Haushalte schonen. Dabei erwähnt dieser jedoch nicht,dass die dortige Sozialverwaltung außerordentlich restriktiv vorgeht. Notwendig für eine allgemeineEtablierung des Persönlichen Budgets ist eine grundsätzlich andere Haltung bei den Kostenträgern,eine gesetzliche Neuregelung des Nachteilsausgleichs und eine unabhängige Beratung für die AntragstellerInnen

Die Zeit davor

Zu Beginn der 80er Jahre kam die Kenntnis über das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen über den Atlantik nach Europa und rasch auch nach Westdeutschland. Menschen mit Behinderung, die in den USA studieren konnten, brachten die Kunde vom Leben außerhalb der Familie und den Anstalten und entfachten damit ein Feuer, das bis heute lodert. Es entstand im ersten Zug die individuelle Schwerbehindertenbetreuung (ISB). Wesentliche Stütze dieses Modells waren Zivildienstleistende. Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten brach diese Assistenz innerhalb weniger Monate zusammen. Die Wehrdienstzeiten und im Gefolge die Dienstzeiten der Zivildienstleistenden verkürzten sich dramatisch. Für die Wohlfahrtsverbände, die ja Einsatzstellen dieser jungen Männer waren, lohnte sich deren Einsatz in der ISB nicht mehr. Das Verhältnis Dienst- zu Freizeit wurde als ungünstig angesehen, daher kündigte man die Verträge der behinderten Menschen mit dem Ablauf der jeweiligen Dienstzeit, oftmals sogar über Nacht.

Chaotische Verhältnisse

Tausende Menschen mit personellem Unterstützungsbedarf standen auf einen Schlag ohne Hilfe da. Nicht wenige mussten in Anstalten ziehen, andere stückelten sich über vielerlei Unterstützungsarten so viel Assistenz zusammen, dass sie außerhalb bleiben konnten. Meine Frau war damals ebenfalls in einer solchen Situation. Es waren fürchterliche 15 Monate, die mich für den Rest meines Lebens geprägt haben. Unser Staat hatte auf diese Situation keine Antwort, von den Anstaltseinweisungen abgesehen. Vom Kostenträger kam die Quasi-Aufforderung, dass sich andere Ehepaare auch trennen würden, wenn ein Partner ins Heim müsste. Durch einen Hinweis aus München kamen wir dann auf das Arbeitgebermodell. Dieses mussten wir jedoch gegen erbitterten Widerstand des Sozialamtes gerichtlich erkämpfen. Die Auseinandersetzungen mit dieser Behörde halten bis heute an. Mal ging es um die Wegnahme einer Steuererstattung, mal um die Falschinterpretation des Kontostandes bei der Bank. Gestritten wurde auch um den freizulassenden Einkommensanteil. Zwar haben wir uns immer durchgesetzt, aber es kostete Zeit, Nerven und auch Geld. Derzeit hat man mir meine 28 Wochenstunden Kostenerstattung für meinen Assistenzbedarf ganz gestrichen. Gegen den Bescheid habe ich einen umfassenden und plausiblen Widerspruch geschrieben. Dieser beeindruckte das Sozialamt mitnichten. Aus derselben Abteilung kam dann der ablehnende Widerspruchsbescheid. Hat das was mit Recht zu tun, wenn sich die Behörde selbst kontrolliert?

Das neue, schöne, liberale Budget

Behinderte Menschen waren sehr gespannt, als die ersten Gerüchte hinsichtlich des Persönlichen Budgets auftauchten. Bereits weit vor der Testphase wurden bunte Bilder über die Freiheit entworfen, die das Persönliche Budget für Menschen mit Behinderung bringen sollte. Vermutlich wurden so auch die Kostenträger auf diesen projizierten Liberalismus aufmerksam und begannen, Gegenstrategien zu entwickeln. Ging es doch um nichts Geringeres als die eigenen Arbeitsplätze und die Verhinderung der Auflösung der überkommenen Machtstrukturen. Bis dahin war alles so schön aufgeräumt: Leistungserbringer und Kostenträger arbeiteten bestens zusammen und die behinderten Menschen waren in Anstalten sicher verwahrt oder wenigstens in sicherer "Obhut" der ambulanten Dienste. Die wenigen Ausreißer, die das Arbeitgebermodell bevorzugten, wurden in schöner Regelmäßigkeit mit Repressalien überzogen, damit ihre Bäume nicht in den Himmel wuchsen und sie vor allem kein paradiesisches Bild weitergeben konnten.

Die Sorgen der Kostenträger

Bereits während der Erprobungsphase machten sich also die Kostenträger Gedanken, wie sie diese Liberalität unterlaufen könnten. Als dann zum Jahresanfang 2008 auch außerhalb der Modellregionen Budgets als Rechtsanspruch möglich waren, wurde die gewaltige Diskrepanz zwischen dem Bild, das die Politik zeichnete und der harten Realität vor Ort auf einen Schlag deutlich.

Die Vorstellungen der Politik

Die Politik steckte Unsummen in wissenschaftliche Evaluierungen, Hochglanz-Broschüren, Zeitungen, Tagungen und Seminare. Alles vom Feinsten. Hinter den Kulissen begann eine Feilscherei um Handlungsempfehlungen. Wie sehr wurde um die Handlungsempfehlungen beispielsweise der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation gestritten! Und wer kümmert sich heute noch darum? So ist beispielsweise im Kapitel 9.2 der BAR-Handlungsempfehlung zu lesen: "Um sicherzustellen, dass mit der Ausführung von Leistungen in Form eines Persönlichen Budgets die zur Verfügung gestellten Geldleistungen bzw. Gutscheine für die Erreichung der Teilhabeziele des SGB IX verwendet werden, sind Vereinbarungen zwischen den Leistungsträgern und dem Budgetnehmer darüber zu treffen, ob und wie die Nachweiserbringung erfolgen soll. Dabei soll sich der Nachweis auf die Leistung beziehen, nicht auf den Preis.

Ausgehend von einer für die Ausführung von Leistungen durch ein Persönliches Budget notwendigen vertrauensvollen Zusammenarbeit aller Beteiligten sollte eine Ausgestaltung der Nachweiserbringung in einer vereinfachten und unbürokratischen Form ("so wenig wie möglich, so viel wie nötig") in Abhängigkeit von der Art der Leistung und dem Bedarf stattfinden. Auf diese Weise soll auch die Bereitschaft des Budgetnehmers zur Eigenverantwortung und Selbstbestimmung gestärkt und dessen Eigeninteresse an einer hochwertigen Leistungsausführung unterstützt werden." (Hervorhebungen vom Autor)

Und dann die Praxis

In der Praxis dagegen gibt es Kostenträger(der Begriff "Leistungsträger" hat sich nicht eingebürgert, er ging wohl auch zu sehr an der Wirklichkeit vorbei), die neben dem Budget eine monatliche Abrechnung verlangen. Es wird nach wie vor um Kosten für Briefmarken gefeilscht. Verschiebungen zwischen einzelnen Etatposten werden als Todsünde geahndet, die mitunter wegen Missbrauchs zur sofortigen Beendigung des Budgets führten. Diskussionen, die früher monatlich stattfanden, wurden an das Ende der Nachweiszeiträume, die in der Ausdehnung zwischen einem (!) und 24 Monaten lagen, verlagert. Dabei entpuppten sich lange Nachweiszeiträume oftmals als üble Falle. Das Gedächtnis musste arg strapaziert werden, denn wer kann sich noch daran erinnern, fürwelchen Brief eine Briefmarke vor 18 Monaten Verwendung fand? Im Rahmen meiner Beratungsarbeit sah ich Bescheide, in denen Auflistungen über Minimalbeträge, die einem falschen Monat zugeordnet waren, säuberlich aufgelistet wurden. BudgetnehmerInnen sahen sich plötzlich mit Rückforderungen von über 100.000 Euro konfrontiert, weil Belege verschwunden waren oder die Behörde
einfach nur schlampig gerechnet hatte.

ForseA hat für einige Auswüchse behördlicher Schikanen eine Internetseite eingerichtet:

Die Sache mit der Unkenntnis

Selbst in Bereichen, die zwischen 2004 und 2007Modellregionen waren, verkündeten Kostenträger den AntragstellerInnen, dass sie noch nie von Budgets gehört hätten. Der Verdacht lag nahe, dass hier Unwissenheit vorgeschoben wurde, um Antragstellende abzuwimmeln. Es kommt auch im Mai des Jahres 2013 noch vor, dass AntragstellerInnen wieder nach Hause geschickt werden.

Etikettenschwindel

Im Gegensatz zu Aussagen in Zeitungsanzeigen und Publikationenist das persönliche Budget keine Leistung, sondern lediglich eine von zwei Erstattungsformen. Ein Budget kann nur beantragen, wer vorher eine der betreffenden Leistungen beantragt hat. Diese Info kam nicht deutlich bei den betroffenen Menschen an. Dass die Kostenträger ihre Verpflichtungen zur Aufklärung und Beratung (§§13,14 SGB I) verletzen, stört niemanden. Die Antragstellenden kennen selten ihre Rechte und mir sind keine Sanktionen bekannt, wenn diese Paragrafen verletzt werden.

Vertrauen?

Als großes Übel empfinden behinderte Menschen die Debatten auf dem Weg zum Budget. Unter dem Deckmantel der Beratung finden teilweise üble Verhandlungen statt, die einzig und alleine dem Ziel dienen, die Ansprüche bzw. beantragten Bedarfe der AntragstellerInnen massiv herunter zu verhandeln. Auf dem Prüfstand stehen immer wieder sowohl die Zeit als auch das Entgelt dafür. Kaum jemand kann sich vorstellen welchen Druck es ausübt, wenn mitunter mehr als vier Menschen aus der Behörde die AntragstellerInnen in die Zange nehmen. Wann sich danach Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Betroffenen von diesen massiven Eingriffen in das eigene Leben erholt haben, hängt sehr von ihrer Psyche ab. Das Vertrauen in die Behörden aber ist nachhaltig gestört. Das sehe ich jedoch als gewollt an. Verstärkt wird dies noch durch Aussagen wie "Ihr Ansinnen ist der Gesellschaft nicht zuzumuten!", die wohl alle AntragstellerInnen irgendwann in ihren Bescheiden lesen mussten oder mindestens zu hören bekamen.

Sachverständige?

Zur Beurteilung der beantragten Leistungen werden vielerlei Sachverständige hinzugezogen. Behinderte AntragstellerInnen sind wohl per se unglaubwürdig und neigen zu überzogenem Anspruchsdenken. Anders ist es nicht zu erklären, dass "Gut"-achter auf uns losgelassen werden, die mit unserer Lebenswirklichkeit, und sehr oft mit unseren Behinderungsarten und den damit verbundenen Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten, nicht sehr vertraut sind. Deren Stellungnahmen werden ungleich höher bewertet als unsere Anträge und Aussagen. Vom Stellenwert der Äußerungen von SachbearbeiterInnen der Kostenträger möchte ich hier gar nicht erst anfangen. Der behinderte Mensch muss dies alles geduldig über sich ergehen lassen, will er sich nicht der Verletzung der Mitwirkungsverpflichtung schuldig machen, mit der bei jedem erkennbaren Widerstand sofort gedroht wird.

Rentengleiche Leistungen!

Behinderungen, wenigstens die meisten, sind dauerhafte Beeinträchtigungen. Damit verbunden auch die benötigten Nachteilsausgleiche. Gleichwohl lesen die AntragstellerInnen stets, dass die Erstattung der Assistenzkosten keine rentengleiche Leistung sei und daher ständig überprüft werden muss. Damit erhält man Arbeitsplätze und auch den permanenten Druck auf die AntragstellerInnen aufrecht. Die Gesetzgebung tat ihr übriges und führte für das Persönliche Budget Zielvereinbarungen ein. Kein Mensch ohne behinderungsbedingten Assistenzbedarf muss für sein Leben Ziele definieren und mit dem Staat vereinbaren. Das einzig sinnvolle Ziel ist doch, inmitten der Gesellschaft in einem höchstmöglichen Maß selbstbestimmt zu leben. In den Zielvereinbarungen werden dagegen seitenlang Ziele definiert.

Geburtsfehler im SGB IX

Das 9. Buch Sozialgesetzbuch wurde ursprünglich alsLeistungsgesetz konzipiert. In letzter Minute haben verschiedene Leute kalte Füße bekommen und den Leistungsteil wieder entnommen bzw. im SGB XII belassen. Die Bestimmungen des SGB IX führen daher ein Schattendasein, lediglich Gerichte nehmen beispielsweise die Fristen- und Weitergaberegeln des § 14 ernst. Das hat mit Sicherheit schon zu verdutzten Gesichtern bei den Kostenträgern geführt. Auf der anderen Seite kollidiert die zivilrechtliche Zielvereinbarung mit dem verwaltungsrechtlichen Bescheid. Dies führt zu der absurden Situation, dass Antragstellende bei Einwänden gegen die Zielvereinbarung diese dennoch zunächst unterschreiben müssen. Denn ohne Unterschrift bleibt der Vorgang an dieser Stelle stehen und es gibt keinen Bescheid. Also kann erst nach der Unterschrift gegen den danach ergangenen Bescheid in Widerspruch gegangen werden.

Vorgang einzelne Fristen gesetzliche Grundlage
Ein Träger, kein Gutachten: drei Wochen vom Antrag bis zur Entscheidung:
zwei Wochen nach Antragseingang zur Klärung der Zuständigkeit
§ 14 (I) Satz 1 SGB IX
drei Wochen nach Antragseingang zur Feststellung des Bedarfs (ohne Gutachten) § 14 (2) Satz 2 SGB IX
Ein Träger mit Gutachten: sieben Wochen vom Antrag bis zur
Entscheidung:
zwei Wochen nach Antragseingang zur Klärung der Zuständigkeit § 14 (1) Satz 1 SGB IX
drei Wochen nach Antragseingang zur Feststellung des Bedarfs § 14 (2) Satz 2 SGB IX
zwei Wochen zur Erstellung des Gutachtens § 14 (5) Satz 5 SGB IX
zwei Wochen zur Entscheidung über das Gutachten § 14 (2) Satz 4 SGB IX
Mehrere Träger ohne Gutachten: fünf Wochen zuzüglich trägerübergreifendes Verfahren vom Antrag bis zur Entscheidung:
zwei Wochen nach Antragseingang zur Klärung der Zuständigkeit und Einbeziehung weiterer Träger § 14 (I) Satz 1 SGB IX
Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen § 3 (I) Satz 2 BudgetV
trägerübergreifendes Bedarfsfestellungsverfahren (unverzüglich) § 3 (3) BudgetV
Feststellung des Teilbudgets innerhalb einer Woche § 3 (4) BudgetV
Mehrere Träger mit Gutachten: neun Wochen zuzüglich trägerübergreifendes Verfahren vom
Antrag bis zur Entscheidung – maximale Dauer: elf Wochen (77 Tage):
zwei Wochen nach Antragseingang zur Klärung der Zuständigkeit und Einbeziehung weiterer Träger
§ 14 (1) Satz 1 SGB IX
Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen § 3 (1) Satz 2 BudgetV
trägerübergreifendes Bedarfsfestellungsverfahren (unverzüglich) § 3 (3) BudgetV
Gutachten mit Fristen: vier Wochen § 14 (5) Satz 5 SGB IX
§ 14 (2) Satz 4 SGB IX
Feststellung des Teilbudgets innerhalb einer Woche § 3 (4) BudgetV

(Quelle: Vortrag von Prof. Dr.  Felix Welti)

Es ist möglich, dass Behörden noch den § 88 (1) SGGin ihrem Arbeitsrhythmus verinnerlicht haben, nach dem eine Bearbeitungsfrist von sechs Monaten für die Bearbeitung von Anträgen gilt. Der § 14 SGB IX ist jedoch stärker. Übrigens: Nach § 88 (2) SGG beträgt die Frist zur Bearbeitung eines Widerspruches drei Monate!

Das Budget und die Behindertenrechtskonvention

Durch die enge Verknüpfung mit der Sozialhilfeverstößt das Budget gegen zahlreiche Artikel der Behindertenrechtskonvention. Ursache ist, dass die Politik und die Kostenträger der politisch gewollten Verfälschung in der sogenannten Denkschrift nachhängen. Diese Denkschrift – in der großen Koalition unter der Ägide des sozialdemokratischen Ministers Olaf Scholz erstellt – besagt, dass die Behindertenrechtskonvention keinen gesetzgeberischen Aufwand und keine Kosten nach sich zieht und praktisch schon als umgesetzt betrachtet werden kann. Doch da irrte sich Scholz und mit ihm die SPD und die CDU. Zwar wird immer noch das Gerücht kolportiert, Deutschland hätte ohne diese Denkschrift auch heute noch keine Behindertenrechtskonvention. Diesen fatalen Imageschaden hätte sich Deutschland jedoch nicht erlauben können.

Im Übrigen: Bei der Entstehung der Behindertenrechtskonvention wurde peinlichst darauf geachtet, dass diese an keiner Stelle über die allgemeinen Menschenrechte hinausreicht. Das Ausmaß des Gezeters über die daraus entstandenen Verpflichtungen ist ein Maßstab dafür, wie weit behinderte Menschen von diesen Menschenrechten entfernt sind.

Übergeleitete Unterhaltsansprüche volljähriger Kinder

Ein Beispiel dafür, wie krank das System im Laufe der Zeit wurde: Bezieht ein Mensch mit Behinderung Eingliederungshilfe – und das sind die meisten – entsteht aus heiterem Himmel ein Anspruch auf Unterhalt gegen die Eltern. Als ich im Alter von beinahe 58 Jahren nach dem Tod meiner Frau erstmals Hilfe für den Haushalt erhielt, war ein Teil davon Eingliederungshilfe. Dies hatte zur Folge, dass meine Mutter, damals 88 Jahre alt und verwitwet, ausgestattet mit einer nicht üppigen Witwenrente, plötzlich einen Brief vom Sozialamt erhielt, nach dem sie mir 31 Euro monatlichen Unterhalt zu zahlen hätte. Diesen Unterhalt hätte ich an das Sozialamt abzutreten, daher soll sie diesen Betrag direkt an das Sozialamt zahlen. Damit verbunden war ein Bündel Formblätter, auf denen sie ihr Einkommen und Vermögen erklären sollte. Dieser Unterhaltsbetrag ist in der Höhe an das Kindergeld gekoppelt. Er kann auch nicht per Bescheid eingetrieben werden. Im Streitfall ist zudem nicht das Sozialgericht, sondern das Familiengericht zuständig. Die Frage ist, ob ich meine Mutter hätte verklagen müssen oder ob das das Sozialamt stellvertretend für mich erledigt hätte. Für mich ist das Sozialstaat pervers! Meine Eltern wurden durch meine Behinderung jahrzehntelang belastet. Und dann kommt eine solche Behörde daher und verlangt noch Unterhaltszahlungen! Aus meiner Beratungspraxis weiß ich, dass dadurch sehr oft tiefer Streit in die Familie getragen wurde. Wenn man die Kosten für die Beitreibung dieser Unterhaltszahlung dagegen rechnet, legt der Staat auch hier drauf. Dabei steht im § 94 SGB XII ausdrücklich, dass unbillige Härten vermieden werden sollten. Die Sozialämter kennen keine unbilligen Härten! Ist alles erlaubt, was dort Arbeitsplätze sichert?

Was ist also nötig, um dem Budget die erforderliche Akzeptanz zu verschaffen?

Die bisher praktizierte Pflichtverarmung der AntragstellerInnen durch die Anrechnung von Einkommen und Vermögen widerspricht der Konvention. Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf werden für diesen abgestraft. Zusätzlich werden Familienangehörige und Ehepartner personell und finanziell in Sippenhaft genommen. Unter diesen Umständen LebenspartnerInnen zu finden, grenzt beinahe an ein Wunder. Diese planmäßige Diskriminierung seiner BürgerInnen mit Assistenzbedarf lässt sich der Staat durchaus was kosten: Für die ständigen Überprüfungen wirft er, wie ForseA nachweist, jährlich mindestens 488 Millionen Euro zum Fenster raus. Dies lässt sich nur damit begründen, dass der berechtigte Personenkreis abgeschreckt werden soll, die für ihn geschaffenen Gesetze und Leistungen in Anspruch zu nehmen. Die benötigte Leistung ist jedoch ein Nachteilsausgleich. Im ersten Schritt muss diese raus aus dem SGB XII. Gerne kann es wieder unter das Dach des SGB IX, wo es eigentlich auch hingehört. Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen haben einen Entwurf für ein Gesetz zur Sozialen Teilhabe vorgelegt. Dieser sieht ebenfalls vor, die Leistungen wieder als Teil des SGB IX zu formulieren.

Gleichzeitig muss jedoch die staatliche Zuständigkeit für den Nachteilsausgleich wechseln. Die menschenverachtende Vorgehensweise der Sozialämter wird als zusätzlicher Nachteil empfunden. Nach Ansicht vieler AntragstellerInnen sind dort Menschen beschäftigt, die einen Vorteil darin sehen, uninformiert zu sein. Galt früher, dass ein Bescheid ein fehlerfreies Dokument sei, so hat sich dies grundlegend geändert. Nunmehr gehen Bescheide heraus, bei denen sehr oft Fehler über Fehler festzustellen sind. Gesetze und Gerichtsentscheide werden ignoriert, bekannte Tatsachen unterschlagen. Kürzlich hatte ich einen Bescheid in den Händen, den das Sozialamt einer Landeshauptstadt erstellt hat. Er enthielt elf grobe Fehler, die Grammatik nicht mitgerechnet. Es kommt der Tag, an dem wir zur Staatsanwaltschaft marschieren und die strafrechtliche Relevanz dieser Bescheide prüfen lassen.

Die Bundesjustizministerin teilte ForseA auf Anfrage mit, dass sie nicht wisse, ob Sachbearbeiter, Vorgesetzte und Behördenleiter mit vorsätzlich falschen Bescheiden strafbare Handlungen begehen. ForseA hatte ihr einen Katalog von vermuteten Straftatbeständen anhand eines praktischen Falles zugesandt und um ihre Beurteilung gebeten. Dieser beinhaltete:

  • Gravierender Fall der Nötigung nach § 240 StGB
  • Bewusste Rechtsbeugung (trotz anderslautender Gesetze hält man an seiner Auslegung fest)
  • Körperverletzung durch Unterlassung (Gefahr von Druckstellen, Gefahr durch Austrocknung, Gefahr durch Verschlucken. Diese Liste ist offen, da das Leben und die Gesundheit der Antragstellerin ohne die Möglichkeit sofortiger Hilfeleistung im Bedarfsfall bedroht sind.)
  • Freiheitsberaubung (Die Antragstellerin kann seit Monaten kaum am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen und ist in ihrer eigenen Wohnung "gefangen")
  • Unterlassene Hilfeleistung (Die Notlage der Antragstellerin ist den angeschuldigten Personen bekannt und hat nicht zur erforderlichen Unterstützung geführt.)

Aber was weiß eine Bundesjustizministerin schon von der Strafbarkeit des Behörden(miss)handeln(s). Vermutlich konnte sie in ihrem Ministerium auch niemanden befragen oder es war gerade keiner da.

Bislang haben wir den Eindruck, dass SozialamtsmitarbeiterInnenfür die Vorenthaltung von Leistungen auch noch positive Beurteilungen erhalten. Die Strafbarkeit dieses Handelns für sie und ihreVorgesetzten sollte hier für die notwendigen Verhaltenskorrekturen sorgen.

Dieser Exkurs sollte verdeutlichen, wie wichtig es ist, nicht nur die Rechtsgrundlage, sondern auch die Behörde zu wechseln.

Was wollen wir?

Wir brauchen in Deutschland eine Vertrauenskultur. Niemand wird über den Bedarf hinaus Assistenzbeantragen. Assistenz ist kein Statussymbol.Es macht nicht immer Spaß, mit Dritten so engzusammenzuleben und sich ständig zu reflektieren,um das Zusammenleben nicht zu gefährden. EigeneBedürfnisse hintenanzustellen, um innerhalb desTeams die Harmonie aufrecht zu erhalten. Um dann, wenn es doch nicht mehr geht, Personalgespräche bis hin zur Kündigung führen zu müssen.Bedenkt man, dass manche großen UnternehmenKündigungen durch externe Unternehmensberatungenaussprechen lassen, wird vielleicht bewusst, was behinderte ArbeitgeberInnen auf sich nehmen, um sich ihre Selbständigkeit zu bewahren.

Wir brauchen an der Schnittstelle zum Staat, beim Kostenträger, Menschen mit Verständnis für unsere Situationen und keine Verzögerungs- und Verweigerungsautomaten.Auf Seiten der Kostenträger hat man alle Zeit der Welt, da man mit jedem verzögerten Monat Geld spart. Auf Seiten der AntragstellerInnen dagegen Anstalten festgehalten werden oder ein sehr eingeschränktes Leben führen müssen. Hier werden elementare Lebensrechte, die uns von Geburt an wie allen anderenauch zustehen, mit Füßen getreten.

Wir brauchen jedoch auch Rückhalt bei den Regierenden,denen es derzeit egal ist, was aus ihren Gesetzen wird. Sie gewähren den Behörden vor Ort Autonomie, dass damit aber oftmals  Schindluder getrieben wird und BürgerInnen von Staatsdienern, also Dienern des Staates, um ihre Rechte gebracht werden, kümmert niemandem. Rechtsaufsicht? Fehlanzeige! Dienstaufsicht? Fehlanzeige. Es bleiben nur die Gerichte und die kosten Zeit und Geld. Beides ist meist nicht vorhanden.

Auch Menschen mit Behinderung haben das Recht, ungenehmigt zu leben und nicht vor jedem Ausflug beispielsweise zu Eltern oder Freunden wegen dem damit eventuell verbundenen  Mehrbedarf einen Antrag auf Erstattung der Mehrkosten rechtzeitig vorab einreichen zu müssen. In seiner derzeitigen sachlichen und persönlichen Ausgestaltung ist das Persönliche Budget ein toter Gaul, totgeritten von den Kostenträgern, die das Budget von Anfang an bekämpften.

Nach langen Jahren des Stillstandes in der Politik ist es allerhöchste Zeit, dass in der Regierung der nächsten Legislaturperiode Menschen sitzen, die unsere Menschenrechte erkennen und auch in die Sozialgesetze einarbeiten. Die nicht schon bei Unterschrift der Verträge den Vorsatz haben, diese zu brechen. Die nicht einerseits auf die Kreuzessymbole in Schulen und Gerichten beharren und sich andererseits höchst unchristlich verhalten.

Wir brauchen zunächst ein Leistungsgesetz, das Menschenmit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf ein freiheitliches Leben ermöglicht. Ein Leben, das alle anderen für sich als selbstverständlich reklamieren.Über das man anscheinend erst dann nachzudenken bereit ist, wenn man selbst betroffen ist, oder Ehepartner oder Angehörige in diese Situation kommen.

Ein neuer Anfang

Dann bitte, versuchen wir es nochmals mit einem Budget. Diesmal aber sinnvoll, ohne unbestellte und ungewünschte Beratungen, ohne konstruierte Ziele, dafür jedoch mit mehr Menschlichkeit und Ehrlichkeit!

Mai 2013
Gerhard Bartz

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