Die Quittung für dieses Jahr wird kommen!
Folgendes Zitat wird dem Reichskanzler (1871-1890) Otto von Bismarck (* 1815, †1898) zugeschrieben: „Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie!" Seither hat sich anscheinend wenig geändert. Ab der kommenden Woche gilt das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG). Noch ehe es veröffentlicht wurde, flattern bereits erste einstellende Bescheide ins Haus. Zukünftige Kostenerstattungen sollen zunächst unter Vorbehalt geleistet werden. Das Gesetz ist auf eine beispiellose Art und Weise zustande gekommen. Die große Koalition gab zunächst zu verstehen, dass sie an der Meinung und den Bedürfnissen behinderter Menschen interessiert wäre. Dieses fand zunächst kaum Eingang in das Gesetz, stattdessen wurden Vorgaben der Länder und Kommunen berücksichtigt. Erst in den letzten Tagen gelang es den Vereinen und Verbänden, noch ein paar Verbesserungen durchzusetzen. Aber selbst hierbei trickste die Politik. Hierzu wurde bereits umfangreich in den kobinet-nachrichten berichtet.
Bis zum Beweis des Gegenteiles vertrauen wir darauf, dass der Bundespräsident das Gesetz nicht unterschreibt.
Denn
- es verstößt gegen die Verfassung und der Interpretation des Artikels 3 GG durch das Bundesverfassungsgericht(es)!
- es verstößt gegen die Behindertenrechtskonvention (BRK). Besonders verwerflich: es gibt vor, die Konvention umzusetzen!
- es verstößt gegen das im Artikel 4 BRK akzeptierte Verbot, Gesetze in Kraft zu setzen, die nicht konventionskonform sind!
- Auch der Verdacht, dass das BTHG auf dem Weg über den juristischen Grundsatz, dass bei Gleiches regelnden Gesetzen das neuere Gesetz das alte neu interpretiert, die BRK faktisch neutralisiert, wurde noch nicht ausgeräumt.
Seit dem Desaster im ForseA-Vorstand, der zum Rück- und Austritt von sechs Vorständen und zum Austritt von 200 Mitgliedern führte, kämpft ForseA einen einsamen Kampf für ein faires BTHG. Gleich welche Argumente wir ins Feld führten (Art. 3 GG, Art. 4 BRK, mögliche Neutralisierung der BRK), alle wurden vom Rest der „Behindertenbewegung" ignoriert. Damit wurden nach unserer Ansicht Chancen vertan. Nitsa, der Verein der ausgeschiedenen Vorstandsmitglieder wurde hingegen dort mit offenen Armen aufgenommen. Erreicht haben sie freilich ebenso nichts. Der Regierung und dem Parlament gehen unsere Interessen eben am A… vorbei. Vielleicht hätte man mit schlagkräftigen Argumenten mehr erreicht, als mit tausen-den herangekarrten behinderten Menschen. Die Aktionen waren gut organisiert, auch die Medien zeigten mitunter etwas Interesse. Aber sie hatten allesamt den Nachteil, nicht nachhaltig gewesen zu sein. Angesichts turbulenter Nachrichtenlagen wurden sie schon Stunden später durch andere Nachrichten überschrieben. Die mit großem persönlichem Einsatz durchgeführten Aktionen (wie beispielsweise das 24-stündige Anketten vor dem Reichstag oder das Schwimmen in der Spree) waren aufgrund des Desinteresses der Abgeordneten von CDU/CSU/SPD zum Aktionismus verdammt. Nicht nur das, obendrein wurde dreist im Parlament vermutet, behinderte Menschen würden von der Opposition für eigene Zwecke instrumentalisiert. Das war rotzfrech. Man gab damit zu verstehen, dass behinderte Menschen nicht in der Lage seien, ihre Interessen selbst zu vertreten.
Dies wurde besonders deutlich, als im Parlament das Gesetz wider allseitigem besseren Wissens schön geredet wurde. Wäre die Kuppel nicht mit Stahl gefasst, die verbogenen Balken hätten wohl nicht gehalten.
Wir wollten von Anbeginn an, dass solche Begriffe wie Eingliederungshilfe abgeschafft werden. Behinderte Menschen brauchen Nachteilsausgleiche, wie beispielsweise Assistenz. Mit dem Festhalten an der Begrifflichkeit „Eingliederungshilfe" liefert der Gesetzgeber gleich noch ein Geständnis mit. Nur widerrechtlich Ausgegliederte benötigen Eingliederungshilfe. Und Ausgegliederte darf es seit 2009 in Deutschland nicht geben. So werden auch die unlauteren Staatenberichte Deutschlands an die Vereinten Nationen demaskiert.
Entgegen der Angaben auf seiner Internetseite fand keine Prüfung auf die Verfassungsmäßigkeit des Inhaltes statt. Das Bundespräsidialamt schreibt „Im Rahmen der Ausfertigung von Gesetzen hat der Bundespräsident allein deren Verfassungsmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit einzelner gesetzlicher Regelungen zu überprüfen.". Für uns eine Riesenenttäuschung, da der Bundespräsident sehr wohl um die Kritik wusste. Aber wenn sich schon die Regierung und Parlament über Verfassung und Recht erhebt, warum sollte der Präsiden ein Vierteljahr vor Ende seiner Amtszeit nicht auch tun? Dachte er sich vermutlich.
Es werden wilde Zeiten auf uns zukommen. Denn das Gesetz ist dazu geeignet, behinderte Menschen wieder in Heime zu stecken und zur gemeinschaftlichen Inanspruchnahme von Leistungen zu zwingen. Wenn dazu auch noch die BRK ihren Rang als neueres Gesetz an das BTHG verliert, wird es ganz wüst.
Das Vertrauen in die Parteien, die diese Regierung tragen, ist dahin. Zu diesem konspirativen Durchpeitschen, wie es bei diesem Gesetz durchgezogen wurde, gibt es sicherlich kein Pendant in der Geschichte der Demokratie in Deutschland. Die Interessen behinderter Menschen wurden denen der Kostenträger geopfert. Und das in einer beispiellosen Kaltschnäuzigkeit! Wenn acht Millionen behinderte Menschen und ihre Angehörigen das Andenken daran bis zum September 2017 bewahren, sollte es mich nicht wundern, wenn sich das im Ergebnis der Bundestagswahlen und auch im Wahlkampf bemerkbar machen würde,
Wir hatten im letzten Jahr an dieser Stelle noch große Hoffnungen in die schützende Wirkung des Artikels 4 der BRK gesetzt. Wir schrieben im letzten Absatz: „Hier müssen Versprechungen gegenüber der UN und dem eigenen Volk eingelöst werden. Die Werthaltigkeit dieser Versprechungen unserer Regierungen wird sich (vielleicht) im Frühjahr 2016 zeigen. Dann geht es nicht mehr um Versuchsballons, dann geht es für behinderte Menschen um ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, für die Bundesregierung nur um deren Glaubwürdigkeit." Ganz schön naiv, im Nachhinein betrachtet.
Nicht im Traum hätte jemand aus unseren Kreisen daran gedacht, dass wir am Jahresende so dastehen. Schauen wir also zu, dass wir das Beste daraus machen. Wenn wir Glück haben, können uns die Gerichte noch helfen. Allen voran das Bundesverfassungsgericht.
Wir wünschen Ihnen ein gesundes, friedliches Jahr 2017 ohne Assistenzprobleme. Wünschen darf man es wenigstens!
Hollenbach, Silvester 2016
ForseA e.V.
Gerhard Bartz, Vorsitzender
im Namen des gesamte Vorstandes.