PERSÖNLICHE ASSISTENZ
POLITIK IN DER
VERANTWORTUNG
AUSSONDERUNG BEHINDERTER MENSCHEN
ODER LEBEN IN
GLEICHBERECHTIGUNG
"In einigen Gesellschaften gibt man sich große Mühe,
behindertengerechte Bedingungen zu schaffen, um den betreffenden Personen einen
möglichst großen Handlungsspielraum zu geben. In anderen
Gesellschaften hingegen sehen sich Behinderte unaufhörlich
demütigenden Situationen ausgesetzt, weil sie auf die Hilfsbereitschaft
anderer Menschen angewiesen sind. Und dies kommt auch in Gesellschaften vor,
die durchaus über die notwendigen materiellen Mittel verfügen,
Behinderten ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu ermöglichen.
Eine Gesellschaft ist entwürdigend, wenn sie die erforderlichen Mittel
hat, aber keine Bereitschaft zeigt, diese den Behinderten zur Verfügung zu
stellen."
Der Philosoph Avishai Margalit untersucht in seinem Buch
"Politik der Würde" die Grundlagen einer "anständigen Gesellschaft".
Er geht davon aus, daß es illusorisch ist, eine "gerechte" Gesellschaft -
wie John Rawls es fordert - zu erreichen. Er definiert unterhalb
eines solchen Anspruches Anforderungen an Institutionen, die er als
Mindeststandards für deren "Anständigkeit" versteht. Eine
Gesellschaft ist nach Margalit "anständig", wenn ihre Institutionen die
Menschen nicht demütigen. Unter Demütigung versteht er
- den Ausschluß aus der Menschengemeinschaft,
- die gezielte Freiheitsbegrenzung und
- den Verlust von Kontrollfähigkeit.
Menschen, die in ihrem Alltag regelmäßig auf Hilfen
angewiesen sind, erleben in einem hohen Maße den Ausschluß aus der
Gesellschaft, sehen ihre Freiheit stark eingeschränkt und fühlen sich
von Pflegekräften weitgehend fremdbestimmt. Das gegenwärtige
Pflegerecht ermöglicht behinderten und alten Menschen mit Assistenzbedarf
kaum ein integriertes, unabhängiges und selbstbestimmtes Leben. Damit
verletzt es nach Margalit für viele die Grundlagen einer
"anständigen" Gesellschaft.
Wie hat sich dieses Pflegerecht entwickelt?
Während für Kriegsbeschädigte seit 1871 und
für Arbeitsunfallverletzte seit 1900 eine Pflegeregelung bestand, wurde
erst mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1961 für alle übrigen
Pflegebedürftigen ein Anspruch auf Pflegegeld sowie Kostenerstattungs-
bzw. Beihilfeansprüche für pflegende Angehörige und Nachbarn und
wenig später die Kostenübernahme für Pflegekräfte
geschaffen - allerdings unter Anrechnung von Einkommen und Vermögen.
Bereits ab 1972 wurden in verschiedenen Bundesländern (Berlin,
Rheinland-Pfalz und Bremen) mit Landespflegegeldgesetzen einkommens- und
vermögensunabhängige Leistungen geschaffen. Damit war sozialpolitisch
die Perspektive eröffnet, Pflegeleistungen nicht nur im Recht der
"Sozialen Entschädigung" wie z.B. im § 35
Bundesversorgungsgesetz (BVG) und im Recht der "Sozialen Vorsorge"
wie z.B. im § 558 RVO bzw. jetzt § 44 SGB VII als kausale Leistung
einkommens- und vermögensunabhängig zu kodifizieren, sondern auch im
Bereich der "Sozialen Förderung" einen Anspruch zu schaffen, der
vorrangig vor den Sozialhilfeleistungen in den §§ 68 ff. a.F. den
Pflegebedarf abdecken sollte. Gesetzentwürfe DER GRÜNEN von 1984 und
1988 gingen diesen Weg, während Hessen bereits 1985 ein
Pflegeversicherungsgesetz vorlegte und Rheinland-Pfalz 1984 einen Entwurf als
kombiniertes Leistungs- und Sozialhilfegesetz in die Diskussion brachte. Eine
ganz Flut von Entwürfen folgte, die sukzessiv den Leistungsumfang immer
weiter einschränkten, bis wir über die Zwischenstufe der
Einführung des Anspruches auf Leistungen wegen
Schwerpflegebedürftigkeit im neuen Sozialgesetzbuch V vom 20. Dezember
1988 in den §§ 53 ff. SGB V a.F. schließlich mit dem
Pflegeversicherungsgesetz vom 26. Mai 1994 die Regelungen des SGB XI bekamen.
Während Österreich mit dem Bundespflegegeldgesetz eine
leistungsgesetzliche Lösung vorzog und in Schweden ein Assistenzgesetz
geschaffen wurde, sollte das deutsche Versicherungsgesetz als "Fünfte
Säule" der Sozialversicherung reüssieren. Niemand sollte sich
schlechter, aber viele besser stehen. Dieses Blüm'sche Versprechen
hat sich inzwischen als hohl erwiesen. Von der Bedarfsdeckung war ebenso
Abschied genommen worden, wie von dem Individualisierungsgrundsatz. Statt
voller Risikoabdeckung - wie in der "alten" Krankenversicherung
- soll nur noch die Unterstützung der häuslichen Pflege und der
Pflegebereitschaft der Angehörigen geleistet werden (§ 3 SGB XI).
Mit dem 1977 eingeführten Programm "Individuelle
Schwerstbehindertenbetreuung (ISB)" konnten erstmalig Behinderte mit einem
hohen Assistenzbedarf durch die Unterstützung von Zivildienstleistenden
außerhalb von Heimen und unabhängig von der Familie ein eigenes
Leben aufbauen. Über die Kostenerstattung für eine notwendige
Pflegekraft (§ 69 Abs. 2 S. 3 BSHG a.F.) konnte dieses finanziert werden.
Allmählich entwickelte sich so ein "Soziales Konzept" von
Pflege, das zunehmend auch über festangestellte Pflegekräfte ein
selbstbestimmtes Leben der Pflegebedürftigen ermöglichte. Dieses
Modell wurde von der Pflegeversicherung durch ein medizinisches
Verständnis von Pflege (§ 14 SGB XI) und durch das Verbot des sog.
Arbeitgebermodells (§ 77 Abs. 1 SGB XI) weitgehend zerschlagen. Der
später eingeführte Bestandsschutz für das AG-Modell und die
Möglichkeit, das AG-Modell über den nachrangigen BSHG-Anspruch zu
realisieren, hat die Situation ein wenig entschärft, aber nicht
gelöst. Durch den rückwärtsgewandten Behindertenbegriff (§
14 Abs. 2 SGB XI) und die restriktive, rein funktionell ausgerichtete
Bestimmung der zu berücksichtigen Verrichtungen (§ 14 Abs. 4 SGB XI),
die gleichzeitig in das BSHG übernommen wurden (§ 68 Abs. 5 BSHG),
wird "persönliche Assistenz" im Bereich der Pflege ungeheuer erschwert.
Über die Leistungskomplexe mit in Vergütungspunkten
umgerechneten Zeitvorgaben werden die Unterstützungsleistungen für
eine Person in Wartungsarbeiten am Pflegeobjekt verwandelt und
die Pflege auf eine "Satt-und-Sauber-Pflege im Minutentakt" reduziert. Durch
die Differenzierung in Behandlungspflege (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB V),
Grundpflege, hauswirtschaftliche Leistungen und Eingliederungshilfe
(§§ 39 ff BSHG) wird eine vorher einheitlich erbrachte Leistung in
Segmente zerschlagen, die unterschiedliche Vergütungsansprüche
auslöst und verschiedene Qualifikationen erfordert. Schlimmer noch ist es,
daß Assistenznehmer von den Pflegeverbänden in die passive Rolle des
Patienten (Geduldigen) gedrängt werden und ihre Kompetenzen verlieren, wie
z.B.:
- Personalkompetenz: Assistentinnen und Assistenten selbst
auswählen und auch ablehnen zu können - und nicht das Personal des
Pflegedienstes oder der Einrichtung akzeptieren zu müssen, sondern auch
die Wahl zu haben, eine männliche oder weibliche Pflegekraft
einzusetzen,
- Organisationskompetenz: Einsätze und Zeiten der Hilfen
planen zu können - und nicht von dem Einsatzplan des Pflegedienstes
oder dem Dienstplan des Heimes im Alltag abhängig zu sein,
- Anleitungskompetenz: Ãœber Form, Art, Umfang und Ablauf
der Hilfen im einzelnen bestimmen zu können - und nicht durch die
sogenannte die Fachkompetenz der Pflegekräfte entmündigt zu
werden,
- Raumkompetenz: Den Ort der Leistungserbringung festlegen zu
können - und die Hilfe nicht nur innerhalb der Wohnung zu
erhalten,
- Finanzkompetenz: Die Bezahlung der Hilfen kontrollieren
- und die korrekte Leistungserbringung auch überprüfen zu
können.
- Differenzierungskompetenz: Die Hilfen nach eigener
Entscheidung von verschiedenen Personen oder Anbietern oder aus einer Hand
abfordern zu können - und nicht von den Leistungsdefinitionen in
Kostensatzvereinbarungen der Anbieter abhängig zu sein.
Es stellt sich die Frage, ob durch die Einschränkung der
Kompetenzen nicht der grundrechtliche Anspruch auf Menschenwürde und das
Verbot der Benachteiligung Behinderter verletzt wird. Eine Förderung von
Arbeitgeber-Modellen, Assistenzgenossenschaften und selbstorganisierten
ambulanten Diensten mit einer Zeitvergütung (§ 89 Abs. 3 SGB XI) und
ganzheitlicher Leistungserbringung muß zumindest neben den traditionellen
Pflegediensten und -einrichtungen stattfinden.
Nach § 9 SGB XI sollen die Länder einen Teil ihrer
eingesparten Milliarden in die Verbesserung der Pflegeinfrastruktur stecken.
Die Praxis zeigt, daß hierunter fast ausschließlich die
Förderung von stationären Einrichtungen verstanden wird. Statt die
wesentlich geringer entwickelten ambulanten Strukturen zu verbessern, werden
ambulante Dienste weitgehend aus der Investitionsförderung ausgenommen und
auch finanziell deutlich gegenüber stationären Einrichtungen
benachteiligt. Zudem werden durch die medizinisch-pflegerischen
Ausbildungsanforderungen an die Leitung und das Personal die Weichen gegen das
Assistenzmodell gestellt.
Besonders deutlich wird die Verengung des Pflegebegriffs bei dem
Ausschluß der Leistungen für Aktivitäten außerhalb der
Wohnung, der Nichtberücksichtigung der Kommunikationsbedürfnisse und
der Nichterwähnung der Anleitung und Beaufsichtigung, insbesondere
verwirrter alter Menschen und geistig Behinderter. Die Rechtsprechung versucht
hier, vorsichtig eine Korrektur zu bewirken. Während Beaufsichtigung und
Anleitung unabhängig von der konkreten Verrichtung nicht
berücksichtigt werden dürfe, könnten Behandlungspflegeanteile,
die mit der Grundpflege verbunden sind und nicht den Einsatz einer Fachkraft
erfordern (Medikamentenkontrolle, Dekubitusprophylaxe usw.) bei der Bestimmung
des Pflegebedarfes mitgerechnet werden (BSG v. 19.2.98, B3 P 5/97 R).
Allerdings sahen andere Sozialgerichte vorher auch Anleitung und
Beaufsichtigung als Teil des Leistungsanspruches an, z.B. bei Demenzkranken
(LSG Celle v. 23.9.97 L 4/3 P 28/96; LSG Saarland v. 4.11.97, L Z P 28/97).
Über den Begriff der "anderen Verrichtungen" in § 68 Abs. 1 BSHG
versuchen einige Verwaltungsgerichte diesen ungedeckten Hilfebedarf
aufzufüllen. Eine gesetzliche Erweiterung und grundsätzliche
Überarbeitung des Pflegebegriffs in § 14 Abs. 4 SGB XI erscheint aber
unabdingbar.
Ebenso sind die Zeitkorridore in den Begutachtungsanleitungen zu
überprüfen. Eine stärkere Orientierung am tatsächlichen
individuellen Zeitbedarf ist dringend erforderlich. Dabei ist auch die doppelte
Begutachtung durch den MDK für die Pflegeversicherungsleistungen und durch
das Gesundheitsamt für die Sozialhilfe zu überdenken. Immerhin ist
vom BSG klargestellt worden, daß die Entscheidungsbindung der Sozialhilfe
nach § 68a BSHG sich nur auf die Einstufungsentscheidung des MDK bezieht.
Eine umfassende Begutachtung unter den Prämissen des Bedarfsprinzips des
BSHG könnte aber manche restriktive Entscheidung verhindern helfen. Das
OVG Lüneburg hat dem Versuch von Sozialhilfeträgern immerhin Einhalt
geboten, die Übernahme der Kosten für eine besondere Pflegekraft auf
eine nach Leistungskomplexen ermittelte tägliche Höchstpunktzahl zu
begrenzen (OVG Lüneburg v. 8.7.97, 4 M 2314/97). Dem entgegengesetzten
Versuch des OVG Lüneburg, den Anspruch auf persönliche Assistenz
contra legem auf die Höchstbeträge der Pflegeversicherung zu
begrenzen wurde zum glück vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert.
Allerdings müssen die Versuche von Sozialhilfeträgern
abgewehrt werden, Eingliederungshilfeleistungen in Pflegebedarfe
umzudefinieren. Durch die veränderten Vorschriften der §§ 93 ff.
BSHG ab 1.1.1999 werden derzeit Leistungsvereinbarungen mit
Eingliederungshilfeeinrichtungen vereinbart, die den Entzug, die Reduzierung
und Verschlechterung der Förderung Behinderter bewirken, in dem ein Teil
nicht mehr als förderungsfähig, sondern nur pflegebedürftig
angesehen wird, ein Teil der Förderung und Unterstützung nun als
Grundpflege oder hauswirtschaftliche Leistung herausgerechnet wird und
Qualifikationsanforderungen von pädagogischer Ausbildung auf Pflegehelfer
reduziert werden. Gleichzeitig wird versucht, Eingliederungs- in
Pflegeeinrichtungen umzuwandeln und Behandlungspflegetätigkeiten in
Grundpflege umzudeuten. Die vielfältigen Versuche der Kostenreduzierung
und -verlagerung haben in den letzten Jahren eine deutliche
Qualitätsabsenkung bewirkt. Durch eine klarere gesetzliche Abgrenzung der
Leistungsbereiche, eine einheitliche Leistungsregelung bei kombinierten
Ansprüchen (z.B. i.S. eines Haupt- mit Annexanspruches) und eine
eindeutige Vorrangregelung, muß dieser Entwicklung Einhalt geboten
werden.
Eine Neuerung im Sozialrecht stellt auch die Umkehrung des
Verhältnisses von Beitrag und Leistungen dar. Während bisher die
Höhe des Beitrags nach dem finanziellen Umfang der zu erbringenden
Leistungen festgesetzt wurde, werden nun die Leistungen vom Beitragsvolumen
bestimmt. Eine Dynamisierung der Leistungen und Vergütungen kann nach
§ 30 SGB XI nur im Rahmen des Beitragsaufkommens auf Grundlage eines
fixierten Beitragssatzes erfolgen. Hierin sehe ich eine Pervertierung von
Sozialpolitik als Anhängsel der Finanzpolitik. Eine Dynamisierung der
Leistungen muß nach 5 Jahren endlich erfolgen.
Die Leistungsansprüche nur nach 3 Pflegestufen zu
differenzieren, hat große Ungerechtigkeiten erzeugt. Andere
Pflegevorschriften (§ 35 BVG; § 44 SGB VII) sehen 5 bis 7 Stufen vor.
Auch die Harmonisierung der Beträge in den Stufen zwischen Geldleistungen,
Sachleistungen, teil- und vollstationären Leistungen ist dringend geboten.
Die gegenwärtige Regelung begünstigt die vollstationären
Leistungen in den Pflegestufen I und II, während die ambulanten
Sachleistungen in Stufe III mit den stationären übereinstimmen und
beim Härtefall sogar höher sind. Das Pflegegeld ist mit wechselnden
Prozentsätzen immer niedriger.
Mit einem deutlich höheren Budget für
Pflegebedürftige bei der Ersatzpflege, könnten flexible Lösungen
für ausgefallene oder im Urlaub befindliche pflegende Angehörige
gefunden werden. Die Nutzung so mancher stationären
Kurzzeitpflegeinrichtung könnte vermieden und erhebliche Kosten eingespart
werden. Auch die soziale Absicherung pflegender Angehöriger reicht nicht
aus, eine eigene Alterssicherung damit aufzubauen oder mit der Pflege den
eigenen Unterhalt zu sichern. Über gestufte Vergütungen sollte
nachgedacht werden.
Die in § 37 Abs. 3 SGB XI vorgesehene Regelung der
Kontrolle von Pflegegeldbeziehern durch die Pflegeverbände hat sich als
aufwendig, unsinnig und entmündigend erwiesen. Die Kosten für die
halb- bzw. vierteljährlichen Pflegeeinsätze stellen unnötige
Kosten dar. Man hat mit den Pflegediensten z.T. den Bock zum Gärtner
gemacht. Einem seit Jahren selbstbestimmt lebenden Behinderten ist es nicht
einsichtig, immer wieder neu kontrolliert zu werden. So sehr man aus
Kostengründen auf die eigenständig organisierte Pflege setzt, so sehr
mißtraut man der Kompetenz der Akteure. Eine wirkliche Kontrolle sollte
vom MDK bei vorliegenden Verdachtsgründen vorgenommen werden. Ansonsten
sollten Pflegebedürftige in ihrer Rolle als mündige Verbraucher
gestärkt und durch Beschwerde- und Beratungsstellen unterstützt
werden.
Alle mit dem EU-Recht vertrauten JuristInnen haben der
Bundesregierung und dem Bundestag gesagt, daß die Ruhensvorschrift des
§ 34 SGB XI, der das Ruhen des Pflegegeldes während eines
Auslandsaufenthaltes von mehr als 6 Wochen vorsieht, gegen den EG-Vertrag
verstößt. Der Europäische Gerichtshof hat
erwartungsgemäß ihre Anwendung für unzulässig erklärt
(EuGH v. 5.3.98 zu der Ruhensvorschrift des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI, Az.
C-160/96). Auch für die Grenzgängerproblematik bietet die Norm keine
vernünftige Lösung. Der Leistungsexport nicht nur von Geldleistungen
muß zulässig sein, wenn Versicherungspflicht besteht und
Leistungsansprüche erworben wurden. Sonst wird die Freizügigkeit von
Behinderten unzulässig eingeschränkt. Neben der Verletzung des
EU-Rechts sehe ich hierin auch eine Verletzung des Benachteiligungsverbotes
Behinderter in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz.
Aber auch der schnelle Wegfall der Leistungen bei Krankenhaus-
und Kurklinikaufenthalten ist problematisch, da in diesen Fällen die
Aufrechterhaltung der Arbeitsverhältnisse der AssistentInnen und damit
eines Assistenzkonzeptes kaum möglich erscheint. Hiervon geht eine
erhebliche Gefährdung der langfristigen Sicherheit und eine
Benachteiligung der ambulanten Pflege aus, da im stationären Bereich
Unterauslastungen im Pflegesatz berücksichtigt werden.
Besonders problematisch ist die Regelung in den §§
3,3a BSHG. Zwar bestimmt § 3 Abs. 2 BSHG, dass Wünschen des
Hilfeempfängers auf die Gestaltung der Hilfen entsprochen werden soll.
Aber nur, soweit sie angemessen sind. Dann wird der Wunsch in einem Heim
untergebracht zu werden, in Satz 2, nur als ultima ratio formuliert. Diesem
Soll nur entsprochen werden, wenn dies erforderlich ist, weil eine ambulante
Hilfe nicht möglich oder nicht ausreichend ist.
Ich bin sicher, daß die Anwesenden das umgekehrte Problem
haben. Ihr Wunsch besteht eher aus eine ausreichende Finanzierung der
ambulanten Hilfen. Im Umkehrschluss ist diese - soweit möglich -
unabhängig von den Kosten zu finanzieren und einer Heimunterbringung
vorzuziehen. Allerdings ist da noch der noch relativ neu veränderte §
3a BSHG zu berücksichtigen. Dieser formuliert zunächst noch einmal
den Vorrang ambulanter Hilfe. In Satz 2 wird dieser aber dann negiert, wenn
eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar und eine ambulante Hilfe mit
unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Bei der
Prüfung der Zumutbarkeit sind die persönliche, familiären und
örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. D.h., wenn
eine Heimunterbringung ungeeignet ist, weil sie die
Selbstbestimmungsmöglichkeiten unzulässig einschränkt oder dem
Eingliederungsziel zuwider läuft, kommt keine fiskalische Betrachtung
infrage. Ebenso, wenn die Heimeinweisung unzumutbar ist, weil sie die
persönlichen Lebensmöglichkeiten z.B. Freundeskreis in der
Nachbarschaft nimmt, familiäre Bindungen zerstört oder eine
unzumutbare örtliche Veränderung z.B. in eine entferntere Stadt
erfordert. Die Regelung vieler Sozialämter, bei einer Überschreitung
der Heimkosten von 20 oder 30 % quasi automatisch die Pflegebedürftigen zu
einem Umzug ins Heim zu nötigen, ist nach herrschender Rechtsprechung
unzulässig und mit dem Anspruch nach § 1 Abs. 2 BSHG i.V.m. Art. 1 GG
kaum zu vereinbaren. Dieses ebenso wenig wie die Forderung vieler
Sozialämter die Hilfen durch Nachbarschaftshelfer über sogenannte
"Honorarverträge" unter Umgehung arbeits- und sozialrechtlich
verbindlicher Standards zu organisieren. Nach wie vor sind die
Sozialhilfeträger die größten Finanziers illegaler
Beschäftigung.
Eine Reform des Pflegerechts sollte im Interesse und unter
Beteiligung der Betroffenen stattfinden und nicht allein von fiskalischen,
professionellen und unternehmerischen Einflüssen geprägt sein. Die
Neuschaffung eines Rehabilitationsgesetzbuches - des SGB IX - mit dem
zentralen Begriff der Teilhabe, hätte die Chance eröffnet ein eigenes
Assistenzgesetz als leistungsrechtlichen Anspruch für Behinderte neben den
versicherungsrechtlichen Regelungen des SGB XI zu schaffen. Dieses schien aber
mit der Vorgabe einer begrenzten Sachreform nicht vereinbar. Damit wurde aber
die Chance verpasst, eine an den Prinzipen der sozialen Eingliederung und
Teilhabe orientierten Anspruch auf persönliche Assistenz zu schaffen, der
die medizinische Orientierung ablegt und die Selbstbestimmung der
AssistenznehmerInnen in den Mittelpunkt stellt.
Schweden ist diesen Weg gegangen. Dort hat man eine
bundesgesetzliche Regelung zur Finanzierung geschaffen, die den
AssistenznehmerInnen die freie Wahl lässt, die AssistentInnen selbst
anzustellen und dafür ein Unternehmen zu gründen, über eine
Assistenzgenossenschaft zusammen mit anderen die Assistenz zu organisieren,
einen privaten Pflegedienst zu engagieren oder die kommunalen Dienste für
die Bereitstellung der Assistenz in Anspruch zu nehmen. Diese konkurrierenden
Optionen haben die Qualität der Assistenz in kurzer Zeit enorm wachsen
lassen. Hier regelt der Markt besser als jede Qualitätsvereinbarung den
Standard. Dieses wurde aber auch nur erreicht - das muss man
ehrlicherweise sagen - weil die Höhe der Kostensätze sich an dem
finanziellen Niveau orientieren, das der kommunale Träger selbst für
seinen Dienst benötigt. Für diesen Preis können die
selbstorganisierten Assistenzträger allemal bessere Qualität bieten.
Leider fehlt uns in Deutschland ein solcher Vergleichsmaßstab.
Persönliche Assistenz ist mehr als nur irgendeine eine
ambulante Dienstleistung unter anderen. Ihr Konzept beinhaltet den Wechsel von
einem entmündigenden Versorgungsdenken zu der Anerkennung eines
Hilfebedarfes für ein gleichberechtigtes selbstbestimmtes Leben. Neben dem
Sozialstaatsgebot in Art. 20 GG sind ebenso das Diskriminierungsverbot in
Artikel 3 Abs. 3 S. 2 GG wie auch der Schutz der Menschenwürde durch den
Staat in Art. 1 GG berührt. Margalit stellt den Schutz vor Demütigung
an die oberste Stelle. Eine so reiche Gesellschaft wie die Bundesrepublik
Deutschland hat die Hilfen bereitzustellen, die Behinderten ein
selbstbestimmtes menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Sonst kann sie nicht für sich beanspruchen eine
"anständige" Gesellschaft zu sein.
Horst Frehe
Wendtstraße 28
28203 Bremen
Sonntag,
28. Januar 2001