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Gedanken zum Jahreswechsel 2019/2020

Gedanken zum Jahreswechsel

Sozialpolitische Hütchenspieler?

Symbolbild Jahreswechsel 2019/2020Gegen Ende des Jahres 2019 ist festzustellen, dass diese Regierung keinerlei Engagement zeigt, die Situation von Menschen mit Behinderungen zu vereinfachen. Mit dem Bundesteilhabegesetz hätten wir eine Möglichkeit gehabt, ein transparentes Leistungsgesetz zu schaffen. Das Gegenteil wurde gemacht: Die bisherige „Spaghetti-Logik" der Gesetze wurde um einige Verstrickungs-Varianten „bereichert". bezieht der behinderte Mensch Eingliederungshilfe und sei es noch so gering, bleiben die Angehörigen außen vor. Bezieht er jedoch nur Pflege, bleiben sie mit ihrem Einkommen in der Mithaftung. Gleichzeitig reduziert sich der Vermögensfreibetrag des behinderten Menschen von 50.000 auf 5.000 Euro. Besonders krass wird es, wenn ein behinderter Mensch mit Eingliederungshilfe aus dem Arbeitsleben ausscheidet und Rentner wird. Verbunden mit der Einkommensminderung ist eine Erhöhung des Eigenanteils an dem Nachteilsausgleich. Denn nun sinken die Freibeträge. Zwar ist die berüchtigte Regelung vom Tisch, dass mindestens fünf aus einem Katalog von neun Hilfearten vorkommen müssen, um überhaupt Leistungen zu bekommen. Aber gleichzeitig schwebt das Damoklesschwert des Zwangspoolens (Zusammenfassung von Leistungen für verschiedene Berechtigte) nach wie vor drohend über unseren Köpfen. Das Zwangspoolen ist zwar an die Zumutbarkeit gekoppelt, doch zumutbarer Zwang ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Zumutbarkeit von der zwangausübenden Stelle festgestellt wird. Und von einer Waffengleichheit sind wir noch weit entfernt, hat doch mit dem Bundesteilhabegesetz der Gesetzgeber die Federführung der Kostenträger erneut anerkannt.

Und dann ist da immer noch der Hammer aus dem Gesundheitsministerium, wonach aus Kostenersparnisgründen beatmete Menschen in eine Anstalt müssen. Angesichts des massenhaften Protests verkündete Minister Spahn zwar, dass der Gesetzentwurf überarbeitet werden muss. Aber seither herrscht Funkstille. Niemand weiß, wie nun die Verfassung und bestehende Gesetze umgangen werden sollen. Bei diesem Hin und Her weiß man wirklich nicht mehr, wer sich nun am 1. Januar freuen kann oder aber noch weiter im Abseits landet. Dagegen sind die Hütchenspieler im Umfeld der Berliner Gedächtniskirche armselige Laien.

Bei der Gelegenheit möchten wir allen, die heute noch der Ansicht sind, dass unsere Verfassung niemand zu irgendetwas verpflichtet, folgende Fakten nahebringen:

  • Artikel 1 Absatz 3 GG: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."
  • Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"
  • Artikel 19 Absatz 2 GG: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden."

Warum also nehmen wir hin, dass wir immer dann benachteiligt werden, wenn wir gesetzlich geregelte Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen müssen? Warum akzeptieren wir, dass wir anschließend von bis zu einem halben Dutzend „Fachleuten" mit mehr oder weniger Druck dazu gezwungen werden, unser Leben „freiwillig" einzuschränken, nur weil uns beigebracht wird, dass unsere Ansprüche der Gesellschaft nicht zuzumuten seien?

Die Regierung stellt alljährlich die Zahl des Sozialhaushalts in die Pressemitteilungen und zeigt dabei auf alte, kranke und behinderte Menschen. Wieviel davon bei den jeweiligen Gruppen direkt ankommt, wird nicht kommuniziert. Es sind nur Bruchteile. Der große Rest geht im übergroßen Overhead an den staunenden Betroffenen „ungestreift" vorbei. Auf der ForseA-Homepage führen wir seit Jahren eine Statistik. Wir haben nachrechenbar und unwidersprochen dokumentiert, dass seit 2011 durch die Einkommens- und Vermögensanrechnung Kosten in Höhe von fast 4 Milliarden Euro entstanden sind. Das lässt sich der Gesetzgeber kosten, um Menschen von der Antragstellung auf gesetzlich zustehende Leistungen des Nachteilsausgleiches abzuschrecken.

In den letzten Jahren ist uns in der Politik immer wieder ein Grundrecht präsentiert worden, das unbedingt eingehalten werden muss. Das ist natürlich korrekt und soll hier auch nicht kritisiert werden. Aber die Grundrechte bestehen auch aus dem Artikel 3 GG. Doch dieser führt in seiner Gesamtheit ein Schattendasein, eine Rolle ähnlich dem legendären Bahnsteig 9 ¾ bei Harry Potter. Nach Belieben wird er einfach ausgeblendet, uns regelrecht ausgeredet, dass wir davon Vorteile hätten. Das ist jedoch falsch. Denn gemäß Artikel 1 GG müssen alle Gesetze, alle Bescheide im Licht des Grundgesetzes interpretiert werden. Dort, wo das nicht geschieht, wird die Verfassung verletzt. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Behindertenrechtskonvention. Auch in deren Licht müssen Gesetze und Entscheidungen Bestand haben.

So wie die Gesellschaft Krankheit und Behinderung verdrängt, nimmt sie auch kranke und behinderte Menschen nur temporär wahr. Binnen Minuten wendet man sich wieder anderen Themen zu, die es zahlreich gibt. Das wissen die Medien, das weiß auch der Gesetzgeber und auch den Kostenträgern ist das ein wichtiges Pfund. Alle wissen, dass man Menschen mit Behinderung ungestraft schikanieren und betrügen darf. Dass man sie in ihrer Notlage alleine lassen darf. Es gibt Menschen in Deutschland, die liegen jahrelang im Bett, weil ihnen die Hilfe versagt wird. Aber selbst wenn die sich nackt in einer Vitrine auf dem Kudamm zeigen würden, man würde es schaffen, daran vorbei zu sehen. Jeder Sozialkonzern, jeder Investor, der mit unserer Existenz Geld verdient, hat mehr Einfluss als wir. Das ist eine Schande und die erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Der Mensch ist so lange wichtig, wie mit ihm Geld verdient werden kann, direkt oder indirekt. Entfällt dies, dann hat er nur noch möglichst billig sein Dasein zu fristen.

Aber die Jahre gehen ins Land und wir schauen nach wie vor zu, wie man uns um unsere Grundrechte betrügt. Man kann durchaus an unserem Rechtstaat Zweifel anmelden, da im Vorfeld des Bundesteilhabegesetzes viele Male und von vielen Seiten Kritik an den Verstößen gegen das Grundgesetz und die Behindertenrechtskonvention geübt wurde. ForseA hat sogar zwei Briefe in dieser Sache an den Bundespräsidenten geschrieben, die für ihn keine Antwort wert waren.

Abschließend noch ein paar Worte zu der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). Lange Jahre schon bestand aus den Reihen der Behindertenselbsthilfe die Forderung, für die ehrenamtliche Tätigkeit entlohnt zu werden. Mit der EUTB ist das nun gelungen. Aber der Preis dafür ist hoch. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat nun in jedem Verein einen kleinen Brückenkopf und Einfluss auf dessen Arbeit. Die Vereine mussten Berater einstellen. Denn Vorstände hätten ihre Ämter zurückgeben müssen, was natürlich auch einige gemacht haben. Die Vereine begeben sich in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zum Ministerium. So viele Fachleute gab es auf dem Markt gar nicht, wie für die EUTB’s gebraucht werden. Und wenn sie dann alle aktiv werden, rennen sie gegen dieselben Mauern wie vorher die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Sie bekommen ihre Blessuren lediglich bezahlt.Wenn wir es schaffen würden, die EUTB’s zumindest der Behindertenselbsthilfe und befreundeter Organisationen miteinander so zu vernetzen, dass die gewonnenen Erfahrungen in die Verbesserung der Gesetze einfließen könnten. Dann hätten wir wenigstens eine kleine Chance, doch noch ein paar Steine aus dieser uns umgebenden Mauer zu brechen.

Es gibt also viel zu tun. Vielleicht schaffen wir es auch, bestehende Abneigungen abzubauen und zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zurückzukehren. „Schauen wir mal", hat ein früher sehr beliebter Kicker mal gesagt. Ich wünsche uns allen, dass unter der vielzitierten Personenzentriertheit der Hilfe nicht nur heiße Luft, sondern auch ein ehrliches Bestreben zu finden ist, die Lebensbedingungen behinderter Menschen zu verbessern.

Wir wünschen Ihnen ein gutes, gesundes, erfolgreiches Jahr 2020!

Herzliche Grüße

Der ForseA-Vorstand

Gerhard Bartz, Oliver Lenz, Monika Martin, Ihsan Oezdil und Susanne Steffgen

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