Rückblick auf ein schlimmes Jahr 2022
Waaas,
schon wieder ein Jahr rum? Je älter ein Mensch ist, desto schneller
verrinnt gefühlt die Zeit. Und wenn diese auch noch aus
behindertenpolitischer Sicht so fortschrittslos verstreicht, wirkt das
noch dramatischer. Gleichzeitig wirkt nach wie vor die coronabedingte
Vereinsamung. Dazu kommen die anderen Unbilden, die Menschen mit
Behinderungen natürlich ebenso betreffen. Viele dieser Menschen sind auf
die Grundsicherung angewiesen und somit von der Inflation besonders
heftig betroffen. Es war kein gutes Jahr für Menschen mit Behinderung.
Politisch ging es rückwärts. Das Intensivpflegegesetz ist ein
Lehrbeispiel für eine Politik, die links blinkt und rechts abbiegt.
Unter dem Vorwand, sich um die Pflege zu sorgen, kommt das alte
Begehren zum Vorschein, Menschen mit Behinderung wieder stationär
unterzubringen. Den Kostenvorteil nimmt man gerne in Kauf. Der Preis,
den die davon betroffenen Menschen zahlen müssen, ist dagegen
entsetzlich hoch. Sie verlieren ihre Freiheit in den eigenen vier
Wänden, verlieren ihre Assistenz, werden dem Medizinbetrieb ausgeliefert
und fürchten sich heute schon vor den Versuchen, sie von der Beatmung
zu entwöhnen. Die panische Furcht vor Erstickungsanfällen während der
Tests lähmt diese Menschen bereits heute. Sie haben zudem den Eindruck,
dass die Solidarität der sogenannten Behindertenbewegung nicht besonders
ausgeprägt ist. Das Intensivpflegegesetz wurde nahezu lautlos
eingeführt. Die Durchführungsbestimmungen wurden außerhalb des
Parlaments und ohne ausreichende Mitwirkung der betroffenen Menschen
beschlossen. Ãœber den derzeitigen Stand der Umsetzung gibt es
Unklarheiten. Der Bundespräsident hätte es nie unterschreiben dürfen,
denn es verstößt gegen unsere Verfassung, auch gegen die
Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Dort hat sich
Deutschland verpflichtet, nur noch konventionskonforme Gesetze zu
erlassen. Daran hat man jedoch nicht einmal im Traum gedacht.
Eine weitere offene Baustelle ist die Triageregelung, die verhindern
soll, dass behinderte Menschen auf den Intensivstationen benachteiligt
werden, weil Menschen ohne Behinderungen (beispielsweise bei der
Zuteilung von Beatmungsgeräten) bevorzugt werden. Natürlich haben
Menschen mit Behinderung das gleiche (Ãœber-)Lebensrecht wie Menschen
ohne Behinderung. Und natürlich dürfen sie nicht von Beatmungsmaschinen
abgehängt werden, wenn diese für einen Menschen mit günstigeren
Prognosen gebraucht werden. Aber ansonsten müssen sie sich den
Ethikrichtlinien der Ärzte unterwerfen wie alle anderen auch. Zudem gibt
es vermutlich genug Beatmungsgeräte, sie liegen sogar irgendwo auf
Halde, weil in großer Stückzahl eingekauft wurden.
Das weitaus größere Problem ist das Personal. Solange Krankheit und
Pflege Dividende an Investoren generieren müssen, wird dieses Problem
bleiben. Krankheit und Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
wie beispielsweise THW und Feuerwehr. Dort ist man bestenfalls
arbeitslose Reserve. Doch niemand stellt deren Kosten zur Diskussion.
Während Pflege mit ihren Renditen noch immer Investoren auf den Plan
locken, leiden die Insassen an dem, was die Investoren erfreut. Diese
Rechnung kann gesellschaftlich nie aufgehen, zu gegensätzlich sind die
Interessen. Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde auch noch
die Pflege der Menschen akkordfähig, zu Lasten der davon betroffenen
Menschen. Fortan galt es, das pflegende Personal anzuhalten, in
möglichst kurzer Zeit so viele Module wie möglich abzurechnen. Diese
Privatisierungen waren die größten Fehler der Herren Kohl und Blüm. Wie
lange schaut die Gesellschaft hier noch zu?
Derzeit wird eine weitere Schwäche des Systems offenbar: Bedingt
durch die hohe Inflation stimmen die ausgehandelten Pflegesätze mit den
Krankenkassen nicht mehr. Weder sie noch die Sozialminister sind bereit,
diese nachzuverhandeln. Dadurch kommen viele Krankenhäuser und
Senioren-„Residenzen" in Schieflagen, denn die Investoren wollen
natürlich weiterhin Geld sehen. Auf der Strecke bleiben die Kranken, die
Alten und die Behinderten in solchen Anstalten. Oft unterversorgt,
können sie die dennoch rasch ansteigenden Eigenanteile nicht mehr
schultern. Müssen sie dann die Sozialämter mit einbeziehen, sind erstens
bald die „Notgroschen" weg und von der Rente bleibt nur noch ein
Taschengeld. Es wird höchste Zeit, die Investoren in diesem Bereich
zurückzudrängen und die Risiken von Alter, Krankheit und Behinderung
beitragsfinanziert auf alle, wirklich alle Schultern zu verteilen. Ohne
Beitragsbemessungsgrenzen und unter Einbeziehung wirklich aller
Einkünfte.
Im Bereich der ambulanten Assistenz drehen verschiedene Kostenträger,
insbesondere der Sozialhilfe, ungeachtet von Notlagen an den
Daumenschrauben. Zwei Monate nach einer Bedarfsermittlungskonferenz
wurde bei einer Person, die eine fortschreitende Krankheit hat, nach
vielen Jahren der anerkannte Bedarf von 16 Stunden täglich auf unter 11
Stunden festgelegt. Dabei ist diese Person eigentlich auf eine
24/7-Assistenz angewiesen. Kein Wort dazu, wie sie das realisieren
könnte. Auch bei der Konferenz selbst deutete nichts darauf hin, dass es
zu einer solchen Kürzung kommen würde. Dort hätte man das ja
diskutieren können. Es kam ja noch nicht zu einem Bescheid. Man kündigte
an, dass man beabsichtige, einen solchen Bescheid zu erlassen. Das
leider mittlerweile übliche Verfahren, um die Bürgerinnen und Bürger
möglichst lange im eigenen Saft schmoren zu lassen.
Dieser Kostenträger misshandelt auf solche Weise zahlreiche
Antragstellerinnen und Antragsteller. Man kann davon ausgehen, dass
diese Methode dort angewiesen ist. Die Behördenleitung wurde vor wenigen
Monaten vom örtlichen Verein der Behindertenselbsthilfe zu einem
Gespräch eingeladen. Sie zeigte sich betroffen, geändert hat sich jedoch
rein gar nichts. Es wurde eher noch schlimmer. Auch in diesem Beispiel
wurden plötzlich Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz moniert. Es wird
alles angeführt, was die Antragsteller unter Druck setzen könnte.
ForseA ist initiativ geworden, um den § 18 des Arbeitszeitgesetzes
deutlicher zu machen. Aber auch die bisherige Fassung hat bei den
Überwachungsbehörden noch keinerlei Probleme gemacht.
Wie man sieht, war es kein gutes Jahr für Menschen mit
behinderungsbedingtem Assistenzbedarf. Und so, wie über die öffentlichen
Haushalte gejammert wird, ist davon auszugehen, dass das nächste Jahr
nicht besser wird. Die Menschenrechte behinderter Menschen bleiben unter
Finanzierungsvorbehalt. Schlimmer noch: Selbst der Gesetzgeber schert
sich in bester Tradition nicht darum.
Wir werden uns weiterhin wehren müssen. Das Schlimme ist, dass
Rechtswege sehr teuer und langwierig sind. Und Zeit und Geld steht uns
einfach zu wenig zur Verfügung. Denn mit keiner oder keiner
bedarfsdeckenden Assistenz befinden wir uns sofort in einer sehr
schwierigen, nahezu ausweglosen Notlage. Genau das wissen die
Kostenträger und nutzen es weidlich aus.
Wir wünschen Ihnen trotz aller Widrigkeiten ein gesundes und friedliches Jahr 2023, frei von Assistenzproblemen!
Der ForseA-Vorstand
Gerhard Bartz, Magot Hartinger, Monika Martin, Ihsan Özdil, Susanne Steffgen