Ein wirklich gebrauchtes, ein verbrauchtes Jahr!
Gedanken zum Jahreswechsel von Gerhard Bartz
Was haben einige Bundesländer wie zum Beispiel Thüringen mit Argentinien gemeinsam? Den Durst nach Gerechtigkeit. Dieser ist so stark ausgeprägt, dass man selbst salziges Wasser schluckt. In beiden Ländern ist zumindest die gefühlte Ungerechtigkeit so groß, dass man sein Kreuzchen auf dem Stimmzettel dort macht, wo man aufgrund von Versprechungen Hilfe erwartet. In Thüringen wird es die AFD sein, in Argentinien war es am Wochenende Javier Milei, der im Wahlkampf versprach, den Staat in seiner derzeitigen Struktur zu zerstören. Wes Geistes Kind er ist, zeigt sich auch darin, dass er den argentinischen Papst als Kommunist bezeichnet. Sein Markenzeichen ist die Kettensäge. Auch an seinen Freunden kann man ihn messen, seine ersten Gratulanten waren Donald Trump und Jair Bolsonaro. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass die allermeisten seiner Wählerinnen und Wähler unter seiner Regierung gewaltig leiden werden. Daran ließ selbst er in seinem Wahlkampf keinen Zweifel. Doch dem argentinischen Volk war das in seiner Verzweiflung egal. Durch 140 % Inflationsrate und einer reichen Elite, die sich unendlich bereicherte und denen der Rest des Volkes egal ist, war man mittlerweile mürbe und ließ sich auf eine Abstimmung zwischen Pest und Cholera ein.
So weit ist man in Thüringen noch nicht. Aber auch dort hat man den Eindruck, dass sich die Gerechtigkeit aus unserer Gesellschaft verabschiedet hat. Noch immer ist die „Zonengrenze" links und rechts des Stacheldrahtes in den Köpfen präsent. Längst ist die Produktivität in den östlichen Landesteilen dank moderner Fabriken und verbesserter Abläufe höher als in den „alten" Ländern. Dennoch hält die Wirtschaft eisern an der 40-Stunden-Woche fest. Gemessen an der 35-Stunden-Woche arbeiten die Menschen in den östlichen Bundesländern vier Jahre länger als die im Westen. Und es ist keine Änderung in Sicht. Und nicht nur im Osten ist zu beobachten, dass die Reichen immer reicher werden. Bei den Armen hingegen wird das sogenannte Lohnabstandsgebot dazu missbraucht, das Familiengeld niedrig zu halten, damit es den Arbeitslöhnen nicht zu nahekommt. Dabei wird stets die Vermutung geäußert, dass bei einer zu geringen Differenz die Menschen lieber im Bett bleiben würden. Kennen sie die Verhältnisse in den Unternehmen so gut, dass sie ausschließen, dass Arbeit auch Freude machen kann?
Auf der Suche nach Gerechtigkeit macht man das Kreuz dann bei einer Partei, die das Gefühl vermittelt, alle Ungerechtigkeiten abzuschaffen. Dass in ihrem Programm nahezu das Gegenteil zu lesen ist, kümmert niemand so richtig. Die meisten dürften es nicht mal gelesen haben. So spült das Prinzip Hoffnung diese Partei auf über 30 %. Vermutlich nicht, weil sie als so gut, sondern weil die Wettbewerber als so schlecht empfunden werden.
Das alles belastet Menschen mit Behinderung ebenso. Aber vieles wird noch hinzuaddiert. Es gibt zwei Sozialgesetzbücher, das SGB IX und das SGB XII, beide sind auf den ersten Blick sehr menschenfreundlich. Misstrauisch macht jedoch, dass man für gesetzlich zustehende Nachteilsausgleiche so viele Druckseiten braucht. Ursache ist die Tatsache, dass den Kostenträgern aufgetragen wird, das Verfahren zu führen und ihnen auch noch sehr viel Spielräume eingeräumt werden. Es ist kaum verwunderlich, dass diese in Zeiten leerer Kassen in der Regel zum Nachteil der hilfesuchenden Menschen genutzt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass es im Bereich der beiden Sozialgesetzbücher IX und XII kaum noch Anwälte gibt, die wirksam unterstützen können. Diese Rechtsgebiete sind derartig umfangreich und zum Teil verheerend strukturiert, wichtige Teile in Verordnungen ausgelagert. Mit der Gebührenordnung der Anwälte wird der erforderliche Aufwand kaum entlohnt. Daher werden oft Privatrechnungen angekündigt. Wer mit einem Beratungsschein ankommt, hat kaum eine Chance, einen Anwaltstermin zu bekommen. Dies ist allgemein bekannt und wird von manchen Kostenträgern weidlich ausgenutzt. Dort rechnet man sich aus, dass der klagende behinderte Mensch die Klage nicht bis zum Erfolg durchziehen kann, selbst wenn er offensichtlich im Recht ist. Dieser offensichtliche Rechts- und Machtmissbrauch durch staatliche Bedienstete interessiert Staatsanwälte, Oberstaatsanwälte, sogar das Justizministerium in keiner Weise. Gebetsmühlenartig wird man auf die vorgegebenen Rechtswege verwiesen. Das Verhalten der Kostenträger wäre nicht strafwürdig. Wir sind jedoch der Ansicht, dass nach § 240 StGB eine Nötigung in einem besonders schweren Fall vorliegt, weil der Täter seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht. Aber auch hier wird die Strafverfolgung unter Hinweis auf den Rechtsweg verweigert. Dass dieser Zeit und Geld kostet und eben deshalb kaum zur Verfügung steht, blendet man einfach aus.
Viele dieser benachteiligten Menschen haben schon ihr Heil in der Öffentlichkeit gesucht. Aber angesichts der komplizierten und umfangreichen Materie wird es schon schwierig, selbst engagierten Journalisten die rechtliche Situation aufzuzeigen. Das was danach bei den Konsumenten ankommt, reicht bestenfalls für eine aufflackernde Empörung, die aber am nächsten Tag durch andere Ungeheuerlichkeiten abgelöst wird.
Das Gefühl des machtlosen Ausgeliefertseins macht Behinderung zusätzlich schwierig. Wir werden Umständen ausgesetzt, die Menschen ohne Behinderung fremd bleibt. Wir werden vor den Augen der Öffentlichkeit immer wieder an die Grenzen unserer Existenz geführt. Und dies von Sachbearbeitern, die wissentlich Gesetze und Rechtsprechung verletzen und dabei kein Risiko eingehen müssen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass sie mit voller Rückendeckung der Behördenleitungen so agieren.
Für Rechtsanwälte muss es sich wieder lohnen, dieses Rechtsgebiet zu bearbeiten. Die Gebührensätze müssen deutlich angehoben werden. Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz muss auch behinderten Menschen ausreichend Schutz bieten. Ebenso der Artikel 12 der Behindertenrechtskonvention. Bislang dienen sie diesem Zweck nur auf dem Papier,
Hilfreich wären auch Anwaltsbüros, die sich auf dieses Thema fokussieren. Heute sind Rechtsanwälte, die hier erfolgreich sind, überlaufen, haben jedoch wirtschaftlich wenig davon. Damit würde auch bei den Kostenträgern die Einsicht wachsen, dass einer eventuellen Willkürentscheidung sofort wirksam begegnet wird.
Es ist an der Zeit, dass unsere drei Staatsgewalten klarstellen, dass die Gesetze auch so gemeint sind, wie sie gedacht sind. Denn unter dem Strich wird mit den Streitigkeiten kein Geld gespart, im Gegenteil, wenn man von den Leuten absieht, die irgendwann aufgeben müssen.
Und es gibt noch eine weitere, sehr wichtige Baustelle:
Das Intensivpflege- und Rehabilitationsgesetz widerspricht in wesentlichen Teilen der Verfassung und der Behindertenrechtskonvention. Nach Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention hätte es nie so beschlossen werden dürfen. Nach unserer Auffassung hätte der Bundespräsident das Gesetz nicht unterschreiben dürfen. Denn sein Amtseid lautet nach Art. 56 GG: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe." Dieses Gesetz dient nicht unserem Wohl (zur Erinnerung: auch wir sind das Volk!) und behandelt uns in hohem Maß ungerecht. Denn es zwingt uns zu panikerzeugenden medizinischen Behandlungen und erlaubt Sachbearbeitern vom Schreibtisch aus, uns gegen geltendes Recht die Freiheit zu entziehen.
Das sind nur Aspekte, die den Bereich behinderungsbedingten Assistenzbedarf betreffen. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Bereiche des täglichen Lebens, die ebenfalls darauf warten, dass „Fleisch auf die Knochen" kommt. Die Gesundheit, die Mobilität, die Barrierefreiheit, um nur drei zu nennen.
Wie kann es sein, dass sich unsere Gesellschaft die Freiheit gestattet, Teilen von ihr elementare Grundrechte vorzuenthalten? So lange lebt heute kein Mensch, dass er bei dem vorgelegten Tempo der Umsetzung unserer Menschen- und Teilhaberechte einmal den Zustand erreicht, den Menschen ohne Behinderung schon immer und gedankenlos ganz selbstverständlich für sich hinnehmen.
Das politische System ist selbsterhaltend:
Die jeweilige Opposition fordert, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Und die Regierung verweigert selbst das, was sie vorher in der Opposition vehement gefordert hat. Möglich macht das die politische Amnesie, die mit jedem Regierungswechsel zuschlägt.
Wir sind uns sicher, dass viele Verbesserungen nicht nur nichts kosten, sondern sogar noch Geld sparen würden. Denn viele Behördenarbeitsplätze könnten - gerade in Zeiten des Fachkräftemangels - eingespart und anderweitig wichtigere Arbeiten durchgeführt werden.
Man könnte viel tun, man muss es nur wollen. Wir erinnern an den Satz von Willy Meurer, deutsch-kanadischer Kaufmann:
„Wer wirklich etwas will, findet einen Weg. Wer nicht wirklich will, findet Ausreden."
Hoffen wir, dass es trotz aller Widrigkeiten doch noch Leute in der Ampel-Koalition gibt, die als Pfadfinder die richtigen Wege finden.
Im Dezember 2023
Gerhard Bartz, Vorsitzender