Was war das denn für ein Jahr?
Gedanken zum Jahreswechsel 2025-2036
Gestartet sind wir in dieses Jahr mit der Hoffnung auf eine neue Bundesregierung. Auf dass die Blockadehaltung endlich aufgegeben wird und Deutschland die Versprechen gegenüber den Vereinten Nationen und den eigenen Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung einlöst. Das Erwachen war schmerzhaft. Kaum im Amt, begann ein Jammern der Union über hohe Sozial-Lasten. Auf dem Fuße folgten Vorschläge der Regierung, wo man Geld sparen kann. Kein Wort von Steuererhöhungen, von Optimierung der Einnahmen. Die Parteien und viele Kommunen griffen die Vorschläge dankbar auf, setzten zahlreiche davon auch sofort um. Urteile des Bundessozialgerichts werden ignoriert, Beispiele:
Kostenerstattung für die Unterkunft der Assistenz? Wenn überhaupt nur dann, wenn sie 24 Stunden am Tag anwesend ist. Ansonsten wird dem Menschen mit Behinderung, aber auch der Assistenzperson, von einigen Kostenträgern zugemutet, sich ohne jegliche Privatsphäre ständig auf der Pelle zu sitzen.
Anerkennung des Bedarfes. Von wegen Personenzentriertheit. Geltend gemachte Bedarfe werden oft drastisch nach unten korrigiert.
Fehlende, mangelhafte oder gar falsche Beratungen, so zum Beispiel, dass man es in Unterfranken schon auf der Homepage des Bezirkes ablehnt, die Kosten für eine 24/7-Assistenz zu übernehmen. „Die Hilfe richtet sich an behinderte Menschen, die bereits selbstständig leben oder die selbstständig leben können und Unterstützung und Hilfestellung durch aufsuchende Fachkräfte benötigen, jedoch nicht rund um die Uhr betreut werden müssen." Damit werden Menschen mit hohem Assistenzbedarf von vorn herein abgeschreckt. Für sie bleibt nach Ansicht des Bezirkes nur noch die Behinderteneinrichtung.
Nachfolgend weitere Beispiele aus dem bayerischen Unterfranken:
Verschleppung von Anträgen. In Unterfranken wird sehr lange an Anträgen gearbeitet. Oder zugewartet, ob sich das Problem von alleine löst. Eine taubblinde Frau wartet seit 15 Monaten auf einen korrekten Bescheid. Sie musste in Vorleistung gehen. Zwei kobinet-Artikel hierzu vom 30.05.2025 (https://tinyurl.com/s6m75524) und vom 15.10.2025 (https://tinyurl.com/35rwhj6h)
Nachdem eine behinderte Frau nicht mehr mit Unterstützung der Assistenz vom Rollstuhl ins Auto umsetzen konnte, beantragte sie Ende 2020 einen Drehsitz auf der Beifahrerseite, damit sie weiterhin ihr eigenes Auto als Beifahrerin nutzen konnte. Da die Rechtslage klar geregelt ist, ließ sie das Auto umbauen und lieh sich das Geld von Freunden. Der Bezirk und die Regierung von Unterfranken, sowie das Sozialgericht in Würzburg lehnten den Antrag ab. Sie versagten ihr damit, ihr eigenes Auto nutzen zu können und schrieben hierzu die seltsamsten Begründungen in den Bescheid, die auch vom Sozialgericht übernommen wurden. Nun wird auf die Entscheidung des Landessozialgerichtes Schweinfurt gewartet.
Dieselbe Frau bezahlt schon seit vielen Jahren ihre Assistenzpersonen nach TVöD. Der Bezirk Unterfranken erstattet auf dieser Basis die Assistenzkosten. Von den Tarifvertragsparteien wurde vereinbart, dass statt aktualisierter Tabellenwerte eine Pauschale zu zahlen ist. Wegen der Vermeidung von Steuern und Sozialversicherung (auch der Arbeitgeberanteile) wurde die zu dieser Zeit mögliche Inflationsausgleichsprämie hierzu verwendet. Der Bezirk lehnte die Kostenübernahme ab. Trotz der Tatsache, dass bundesweit die Beträge von Kostenträgern übernommen wurden, zum Teil auch, nachdem Kostenträger darauf aufmerksam machten. Um Nachteile für ihr Assistenzteam zu vermeiden, zahlte die Frau diese tarifliche Pauschale und lieh sich über 9000 € in ihrem Bekanntenkreis.
Aber das ist beileibe nicht alles. Nahezu alle Menschen mit Behinderung, die es mit dem Bezirk Unterfranken zu tun haben, beklagen sich bitter über den Kontakt mit dieser als brutal und leistungsverweigernd wahrgenommene staatliche Gewalt. Aber auch in anderen Bezirken gibt es ähnliche Vorgänge. Und im restlichen Deutschland natürlich ebenfalls, allerdings nur in den neuen Bundesländern ähnlich massiv.
Ein weiteres gravierendes Problem ist der Mangel an barrierefreien Wohnungen. Soll damit der Zuzug von Menschen mit Behinderung gesteuert werden? Oder will man den Auszug aus „Heimen" verhindern? Sofern überhaupt Sozialwohnungen gebaut werden, sind diese zu klein. Es fehlt das vom Bundessozialgericht ausdrücklich zugebilligte Zimmer für die Unterbringung oder den Rückzug der Assistenz.
Nach Artikel 19 GG besteht effektiver Rechtschutz. Doch der ist nicht gegeben, wenn die Entscheidung der Vorinstanz nicht geprüft wird und die Verfahren sich über Jahre hinweg erstrecken. Hinzu kommt, dass man sich das Recht erstmal leisten können muss. Das Sozialrecht ist so komplex und verworren, dass sich viele Anwälte nicht mehr auf diesem Rechtsgebiet bewegen. Da sie über die Gebührenordnung nur eine sehr geringe Vergütung erhalten, fordern sie private Aufzahlungen. Kann man sich diese nicht leisten, bekommt man keinen Termin. So einfach ist das.
Sehr oft macht sich in der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit die Nähe des Gerichts zur Verwaltung bemerkbar. Bescheide werden – so unser Eindruck - sogar dort, wo sie eindeutig gegen Gesetze verstoßen, abgeschrieben oder gar kopiert.
Dabei geht es um unsere Menschenrechte. Wir werden mit ihnen geboren, viele werden auch mit ihnen sterben. Es sei denn, man braucht den gesetzlich verbrieften Nachteilsausgleich, weil man irgendwann behindert wird. Dann lernt man den Staat von einer Seite kennen, die den Meisten gottseidank verborgen bleibt. Dann ist Schluss mit lustig, denn dann wird in aller Regel gestritten, oft gelogen, erpresst, betrogen. Manche Kostenträger haben das so perfektioniert, dass sie ohne jegliche Hemmungen Gesetze richtig zitieren, dann jedoch falsch anwenden.
Und die Politik schaut nicht nur zu, nein, sie verunsichert sogar, indem sie immer weitere Stichworte liefert, die Kostenträger allzu gern aufgreifen. Und es bewegt sich nichts und wir sind bereits dankbar, wenn es nicht rückwärtsläuft. Wie lange schon werden wir von der Union in Sachen Gleichstellungsgesetz hingehalten. Dort hat man einfach keine Lust, das Versprechen mit der Behindertenkonvention einzulösen. Wir spielen das Spiel mit der Bank einfach mit. Planen heute schon Veranstaltungen im Herbst 2026, wissend, dass wir bis dahin ohnehin nichts tun können.
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Dieser Satz steht seit 1994 im Grundgesetz an prominenter Stelle im Artikel 3, somit bei den Grundrechten. Und binden alle drei staatlichen Gewalten. Doch diese fühlen sich nicht gebunden. Diese Missachtung elementarer Rechte ist auch eine Axt, die an unsere Gesellschaft gelegt wird.
Für mich stellt sich die Frage, ob der oft menschenverachtende Umgang der jeweiligen Regierungen, Parlamente, Verwaltungen, leider oft auch Gerichte, mit unserer Verfassung, mit Gesetzen und mit der Rechtsprechung verstärkt dazu beiträgt, dass unser Gemeinwesen immer weiter auseinanderdriftet. Denn staatliche Organe stellen das Rückgrat unserer Gesellschaft dar. In dem Maß, wie diese gesellschaftlichen Strömungen nachgeben, verstärken sie eben diese Strömungen. Das ist jedoch nicht ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe ist es, Leitplanken der Gesellschaft zu sein, ihr Halt zu geben.
In Bezug auf den Umgang mit behinderten Menschen ist es unabdingbar, dass folgende zwei Artikel der Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland geltendes Recht sind, uneingeschränkt umgesetzt werden:
Artikel 4 Bestehende Gesetze müssen auf ihre Konformität mit der Behindertenrechtskonvention überprüft und dort, wo sie abweichen, novelliert werden.
Artikel 8 Der Staat muss das Bewusstsein in der Gesellschaft derart bilden, dass
behinderte Menschen als gleichberechtigte Teile unseres Gemeinwesens
wahrgenommen werden.
Solange nicht angegangen wird, erfolgt auch kein Druck auf die drei Staatsgewalten, Artikel 4 mit Leben zu erfüllen. Das Behindertengleichstellungsgesetz in der jetzigen (24.11.25) Fassung widerspricht den Vorgaben des Artikels 4 und darf daher nicht Gesetz werden.
Somit bleibt der Gedanke, dass man weiterhin mit unseren Grundrechten nach Gutsherrenart umgehen kann, in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Das Ansehen keiner anderen Gesellschaftsgruppe hat sich seit dem Mittelalter so wenig verändert. Noch immer müssen wir darum betteln, gleichberechtigt inmitten der Gesellschaft leben zu können. Und noch immer muss man uns das „gewähren", ganz oder heruntergehandelt nur in Teilen. Noch immer gibt es selbst in Regierungen Ansichten, wonach unser Begehren der Gesellschaft nicht zuzumuten ist (siehe die zitierte Internetseite des Bezirks Unterfranken).
Statt den Leistungsarten Pflege und Eingliederungshilfe benötigen wir für Menschen mit Behinderung die Leistungsart Assistenz
Denn nur die erlaubt eine ganzheitliche Betrachtung des Bedarfes. Im Prinzip ist unser Assistenzbedarf – weil in der Regel überwiegend – Eingliederungshilfe. Die Aufsplittung gereicht uns stets zum Nachteil, weil sich die Anzahl der Ämter und Bediensteten auf der Gegenseite verdoppelt. Und damit auch der Diskussionsbedarf. Dabei könnte es so einfach sein:
- Der Teilhabebedarf besteht im Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile; maßgebliche Vergleichsgruppe ist der nichtbehinderte und nicht sozialhilfebedürftige Mensch vergleichbaren Alters." (Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 14.04.2016, Az.: L 7 SO 1119/10)
- „Hinsichtlich der Eingliederungshilfeleistungen für wesentlich Behinderte – wie die Klägerin – im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII besteht kein behördliches Ermessen, sondern ein Anspruch des wesentlich Behinderten." (Landessozialgericht Baden- Württemberg am 22.02.2018 (L7 SO 3516/14)
Die ständigen Versuche, uns von unseren Rechten zu trennen, kosten immense Beträge für Sachbearbeiter, Spzialpädagogen, Gutachter, Wissenschaftlern. Aber die sind es unserer Gesellschaft anscheinend wert, um etwas zu sparen.
Martin Luther King: „I have a dream". Auch behinderte Menschen träumen. Von der Freiheit, inmitten der Gesellschaft wahrgenommen und anerkannt zu werden. Doch noch immer plagen auch sie die jahrhundertelang antrainierten Reflexe, möglichst nicht aufzufallen. Das aber gelingt nicht oft. Denn immer wieder geraten wir unter das Okular von Begutachtern, Wissenschaftlern, Sozialpädagogen, Sachbearbeitern und Gerichten. Mit Personenzentriertheit hat das nichts zu tun. Wir möchten selbstbestimmt leben. Um das zu ermöglichen, brauchen wir Unterstützung, damit wir das nach unseren Möglichkeiten auch bewerkstelligen können. Und niemand, bitte niemand sollte uns klarmachen, es besser zu wissen, wie wir unser Leben leben können.
Link zur Weihnachtsgeschichte des Jahres 2017: Eine wunderbare Zeitreise zurück ins Jahr 2009 und retour (https://tinyurl.com/3afuzxny)
Eines Tages wird es auch ohne den Umweg über einen Traum möglich werden. Da bin ich mir sicher.
Meine Vorstandskolleginnen und ich wünschen Ihnen dies!
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Bartz
Vorsitzender ForseA e.V.