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Urteil 015

Az.: 4 M 2314/97

Oberverwaltungsgericht Lüneburg

Das Bedarfsdeckungsprinzip steht einer Entscheidung des Trägers der Sozialhilfe entgegen, die Übernahme angemessener, nach Leistungskomplexen ermittelter Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte pauschal auf eine Höchstpunktzahl je Tag zu begrenzen.

Zu einer geeigneten Methode, einen einheitlichen monatlichen Leistungsbetrag zu ermitteln, wenn es nicht erforderlich ist, dass der Pflegebedürftige bestimmte Leistungskomplexe jeden Tag (in derselben Häufigkeit) abruft.

(§§ 3, 3a, 68a, 69b BSHG)

Beschluß des Oberverwaltungsgericht Lüneburg vom 08.07.1997

Aus den Gründen:

Die 1968 geborene Antragstellerin ist schwerstbehindert (schwere Dysmelien der oberen und unteren Gliedmaßen, chronische Pyelonephritis und Blasenschwäche). Nach den Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 23.10.1995 und vom 26.02.1997 ist sie „aufgrund ihrer Behinderung in hohem Maße auf Dauer und auch rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen". Die Voraussetzungen der Pflegestufe III sind danach erfüllt, diejenigen für einen Härtefall aber nicht. Die Beklagte gewährt ihr seit dem 01.04.1995 Hilfe zur Pflege nach § 69 b BSHG durch Übernahme der Kosten des wochentags eingesetzten Pflegedienstes und an Wochenenden der Kosten für privat beschaffte Pflegekräfte unter Anrechnung vorrangiger Leistungen der Pflegekasse.

Durch Bescheid vom 23.01.1996 übernahm die Antragsgegnerin ab dem 01.01.1995 die Kosten des Einsatzes von Pflege- und Betreuungskräften des Pflegedienstes als Pflegesachleistungen nach Leistungskomplexen; dabei wurde die Leistung der Pflegekasse in Höhe von 2 800 DM monatlich angerechnet und die Kostenübernahme auf höchstens 7 000 Leistungskomplex-Punkte pro Tag begrenzt. Mit ihrem gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch wandte sich die Antragstellerin sowohl dagegen, dass die Kostenübernahme nicht alle beantragten Leistungskomplexe erfasste, als auch dagegen, dass sie auf höchstens 7 000 Punkte pro Tag begrenzt war. Mit Bescheiden vom 20.08.1996 half die Antragsgegnerin dem Widerspruch, soweit er die Leistungskomplexe betraf, ab und wies ihn im übrigen, also hinsichtlich der Bestimmung der Obergrenze von 7 000 Punkten pro Tag, zurück. Über die dagegen erhobene Klage (3 A 5116/96) ist noch nicht entschieden.

Mit ihrem am 12.02.1997 bei Gericht eingegangenen Antrag hat die Antragstellerin begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem Zeitpunkt der Anhängigkeit vorläufig die Kosten des Einsatzes von Pflege- und Betreuungskräften ohne die Beschränkung auf die Punktzahlobergrenze von 7 000 Punkten pro Tag zu gewähren.

Das Verwaltungsgericht hat durch Beschluß vom 26.03.1997 die Antragsgegnerin antragsgemäß verpflichtet.

Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde ist nicht begründet. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses im Sinne von §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen nicht. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die beantragte einstweilige Anordnung erlassen. Denn die Antragstellerin hat für den verfolgten Anspruch nach §§ 68, 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG auf Übernahme der angemessenen Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte Anordnungsanspruch und –grund glaubhaft gemacht.

Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass die Leistungen der Sozialhilfe zur Deckung des individuellen Bedarfs des Hilfebedürftigen bestimmt sind (Bedarfsdeckungsprinzip). Als Bedarf der Antragstellerin an häuslicher Pflege ist – jedenfalls für das Eilverfahren – dasjenige anzunehmen, was die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 20.08.1996 an notwendigen Pflegeleistungen (Leistungskomplexen nach dem SGB XI und dem BSHG sowie für Nachtbetreuung) zugrunde gelegt hat. Denn diese Annahme auf der Basis der nach Inkrafttreten des Rechts der Pflegeversicherung eingeführten Leistungskomplexe (vgl. § 69 SGB XI) geht auf ihre eigenen Ermittlungen zurück: Die Angaben der Antragstellerin im Antrag vom 14.09.1995, ergänzt durch eine vom Pflegedienst mit Schreiben vom 17.01.1996 vorgelegte Leistungsaufstellung (Pflegeplan), wurden anhand eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen vom 23.10.1995 und der Ergebnisse eines Hausbesuches der Bezirkssozialarbeiter der Antragsgegnerin bei der Antragstellerin am 05.06.1996 überprüft, und danach wurde durch Bescheid vom 20.08.1996 dem Widerspruch der Antragstellerin gegen die Ablehnung einzelner Leistungskomplexe stattgegeben (das gilt auch hinsichtlich des Leistungskomplexes 26, vgl. Klageerwiderung vom 29.10.1996, im Verfahren 3 A 5166/96).

Danach ist eine pauschale Reduzierung des so ermittelten und von der Antragsgegnerin anerkannten Bedarfs der Antragstellerin an Pflegeleistungen nicht gerechtfertigt, insbesondere nicht im Hinblick darauf, dass sich – wie die Antragsgegnerin behauptet – Inhalte der einzelnen Leistungskomplexe überschneiden und dass nicht jeden Tag alle Leistungskomplexe in der bewilligten Zahl abgerufen werden können oder müssen. Für die von ihr für richtig gehaltene Begrenzung für die innerhalb eines Tages und einer Nacht notwendigen Pflegeleistungen auf maximal 7 000 Punkte pro Tag (Punktobergrenze; Deckelung) fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Während für das Recht der sozialen Pflegeversicherung § 36 Abs. 3 und 4 SGB XI (pauschale) Begrenzungen der Leistungen auf einen nach Pflegestufen gestaffelten Gesamtwert je Kalendermonat vorsieht, fehlt es an einer entsprechenden Regelung für das Recht der Sozialhilfe, das auch bei der Hilfe zur häuslichen Pflege weiter vom Bedarfsdeckungsprinzip beherrscht wird (vgl. Beschluß des Senats vom 05.06.1996 – 4 M 2452/96, FEVS Bd. 47 S. 89; OVG Hamburg, Beschluß vom 10.06.1996, FEVS Bd. 47 S. 177; Jürgens, ZfSH/SGB 1997 S. 24 ff. [26]). Der Verweisung in § 68 Abs. 2 BSHG auf Regelungen der Pflegeversicherung ist die Normierung einer solchen „Deckelung" aus den in dem angefochtenen Beschluß dargelegten Gründen nicht zu entnehmen.

Entsprechendes gilt für die Bestimmung in § 68 a BSHG, nach der die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch auch der Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege zugrunde zu legen sind, soweit sie auf Tatsachen beruhen, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Denn die Entscheidung der Pflegekasse über das Maß der Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin (die Pflegestufe) hat die Antragsgegnerin ihrer Entscheidung über den Pflegebedarf der Antragstellerin zugrunde gelegt. Ein Recht, die Leistung nach § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG pauschal zu begrenzen, ergibt sich aus der Bindungswirkung nach § 68 a BSHG nicht.

Dem berechtigten Anliegen der Antragsgegnerin, bei der Übernahme angemessener Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte zu berücksichtigen, dass bestimmte Leistungskomplexe nicht jeden Tag (in derselben Häufigkeit) abgerufen werden können oder müssen, ist auf andere Weise Rechnung zu tragen: Die Antragsgegnerin muss dazu ermitteln und entscheiden, in welchem größeren Zeitraum als einem Tag sie die Leistungskomplexe in welcher Zahl für erforderlich hält. Es empfiehlt sich, als kleinste Einheit den Zeitraum (eine Woche, zwei Wochen oder mehr Wochen) zu wählen, in dem jeder bewilligte Leistungskomplex mindestens einmal oder so häufig vorkommt, dass sich die Zahl in dem gleichlangen Folgezeitraum wiederholt. Die Gesamtpunktzahl der Leistungskomplexe in diesem Zeitraum ist auf das Jahr (52 Wochen) hochzurechnen, sodann auf einen Monat umzurechnen (durch 12 zu teilen) und mit dem DM-Betrag für einen Punkt der Leistungskomplexe zu multiplizieren, damit von diesem pauschalen Monatsbetrag die monatliche (Monat für Monat einheitliche) Leistung der Pflegekasse abgezogen werden kann.

Diese Methode wird beiden Anliegen gerecht: Dem des Sozialhilfeträgers, trotz des von Tag zu Tag schwankenden Bedarfs einen monatlich einheitlichen Leistungsbetrag zugrunde legen zu können, und dem des Hilfeempfängers, im Rahmen des notwendigen und bewilligten Umfangs je nach Bedarf entscheiden zu können, an welchem Tag er welche Leistungskomplexe in welcher Zahl abrufen will. Die von der Antragsgegnerin gewählte Methode der pauschalen Begrenzung der täglichen Punktzahl beruht demgegenüber auf einer groben Schätzung ohne ausreichend ermittelte Tatsachengrundlage und ist deshalb ungeeignet.

Der Senat hat die von ihm für richtig gehaltene Methode in dem ähnlichen Fall angewandt, in dem es um die Kürzung des Pflegegeldes bei teilstationärer Betreuung nach § 69 Abs. 4 Satz 3 BSHG a.F. (= § 69 c Abs. 3 BSHG n.F.) gegangen ist (u.a. Urteil vom 5.1.1984 – 4 A 98/82). Diese Methode hat es ermöglicht, die im Laufe eines Jahres regelmäßig wiederkehrenden Zeiten ohne teilstationäre Betreuung (gesetzliche Feiertage, Ferien usw.) zu berücksichtigen und für das monatlich zu zahlende Pflegegeld einen für jeden Monat einheitlichen (pauschalen) Kürzungssatz zu ermitteln.

Ähnlich wird die Antragsgegnerin hier vorgehen müssen, wenn sie künftig bei der Ermittlung des monatlichen Leistungsbetrages berücksichtigen will, dass es nicht im Sinne des § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG „erforderlich" ist, dass die Antragstellerin bestimmte Leistungskomplexe jeden Tag (in derselben Häufigkeit) abruft. Der Senat sieht nicht begründeten Anlaß, in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine solche Berechnung erstmals selbst vorzunehmen, solange die Antragsgegnerin nicht entschieden hat, welche Leistungskomplexe sie in welchen zeitlichen Abständen wie oft für erforderlich hält.

Eine Begrenzung der Übernahme angemessener Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte ist schließlich auch nicht nach den Bestimmungen der §§ 3 f. BSHG gerechtfertigt. Die allgemeinen Grenzen der Respektierung der Wünsche des Hilfeempfängers hinsichtlich Art, Form und Maß der Sozialhilfe gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG (soweit sie angemessen sind) und § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG (soweit sie mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind) stehen der Beachtlichkeit des Wunsches der Antragstellerin, in ihrer eigenen Wohnung zu leben und gepflegt zu werden, nicht entgegen. Denn nach § 3 a Satz 1 BSHG ist die erforderliche Hilfe regelmäßig außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen zu gewähren. Dies gilt – ohne Rücksicht auf die Mehrkosten der ambulanten Hilfe – gemäß § 3 a Satz 2 BSHG nur dann nicht, wenn eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar ist.

Gemäß § 3 a Satz 3 BSHG sind bei der Prüfung der Zumutbarkeit die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Zunächst sind deshalb die die persönliche Situation des Hilfesuchenden prägenden Umstände des Einzelfalles besonders zu prüfen und angemessen zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 28.8.1996 – 4 L 1845/96, Betreuungsrechtliche Praxis 1997 S. 117) kann deshalb nicht allgemein verbindlich gesagt werden, in welcher Größenordnung oder ab welchem Verhältnis die Mehrkosten einer ambulanten Hilfe „unverhältnismäßig" in diesem umfassenden Sinne sind.

Im vorliegenden Fall sind die persönlichen, familiären und örtlichen Verhältnisse und die bekannten Mehrkosten der ambulanten Hilfe – soweit hierzu Feststellungen getroffen sind – jedenfalls nicht der Art, dass das Kriterium der Zumutbarkeit stationärer Hilfe im Sinne des § 3 a Sätze 2 und 3 BSHG bejaht werden könnte. Erschöpfende Feststellungen hierzu hat die Antragsgegnerin wohl auch deshalb unterlassen, weil sie die Rechtsfolge des § 3 a Satz 2 BSHG, die gewünschte ambulante Hilfe ganz zu versagen, auch nicht für angezeigt hält.

Quelle: Bd FEVS (Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte) 48/1998

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