Die verpasste Chance
Das Jahr 2015 war für assistenznehmende Menschen eine erneute, bittere behindertenpolitische Nullnummer
Schrieb ich im letzten Jahr an dieser Stelle noch die Aufforderung "Kommt endlich in die Pötte", so muss ich am Ende dieses Jahres konstatieren, dass wir Jahr keinen Millimeter weitergekommen sind. In Deutschland macht sich die Befürchtung breit, dass die Bundesregierung nach wie vor behinderte Menschen als Schäubles Stellschraube missbrauchen will, um ihrem Götzen, der schwarzen Null zu huldigen. Es greift alles ineinander: Die Bundesregierung macht nichts, um den Bewusstseinswandel, den voranzutreiben sie versprochen hat, zu fördern. Denn ohne diesen Bewusstseinswandel ist es wie in den vergangenen Jahrzehnten möglich, Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren. Nicht etwa durch die Bundesregierung und das Parlament selbst, dazu ist man sich zu fein und steht zu sehr im Fokus der Öffentlichkeit. Nein, die Damen und Herren erlassen Gesetze und Verordnungen und bauen dort sehr viele wohltönende Spielräume ein. Dabei wissen sie längst, dass an der Front, dort, wo behinderte Menschen ihre gesetzlich verbürgten Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen wollen, ein erbarmungsloser Krieg geführt wird. Aber selbst wäscht man seine Hände in Unschuld, hat man doch alles getan, damit es behinderten Menschen gut gehen könnte.
Mit der Schikane behinderter Menschen "Sporen" verdienen
In den Kommunen dagegen wird die Tatsache, dass Leistungen für behinderte Menschen immer wieder verhandelbar sind, dazu missbraucht, Haushaltsprobleme auf deren Rücken zu mildern. Bisher jahrelang genehmigte Bedarfe werden plötzlich halbiert. Junge SachbearbeiterInnen müssen sich in der Drangsalierung behinderter Menschen ihre Sporen, ihre Qualifikation für höhere Aufgaben verdienen. Mit einer entsprechenden Kälte gehen sie an diese Aufgaben heran. Ob die Unkenntnis unserer Lebensumstände vorgegeben oder antrainiert ist, bleibt offen. Sie gehen jedenfalls in aller Regel in dem Bewusstsein in die "Verhandlungen" mit uns, dass ihnen Menschen gegenübersitzen, die unseren Staat abzocken wollen und deren Ansprüche - weil vermeintlich überzogen
- zurückgeschraubt werden müssen.
Wehrlosigkeit behinderter Menschen wird schamlos ausgenutzt
Die derart angegangenen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind dieser Gewalt schutzlos ausgeliefert. Denn sie haben weder Zeit noch Geld und oft auch nicht mehr die Kraft, sich juristisch zur Wehr zu setzen. Von der Öffentlichkeit haben sie keine Unterstützung zu erwarten, da auch unseren nichtbehinderten Mitmenschen das Thema Behinderung unbequem ist. Spärliche Medienkontakte bringen bestenfalls ein paar Tage "Luft", ehe deren Wirkung angesichts vieler neuer Meldungen verpufft ist. Politikerkontakte oder Briefe an die Behindertenbeauftragten bringen selten mehr als warme Worte. Wirksame Unterstützung ist von der Rechtsprechung zu erwarten. Da anwaltlicher Beistand jedoch zunächst mal viel Geld kostet, Geld, das auch bei erfolgreicher Verhandlung nicht mehr zurückkommt, ist dieser Weg oftmals versperrt. Hinzu kommt, dass Menschen, die ihre Nachteilsausgleiche erkämpfen müssen, sich in einer absoluten Notlage befinden. Diese erlaubt selten, dass man sich erst in vielen Monaten gerichtlich einigt.
Existentielle Probleme bleiben im Hintergrund
Angesichts dieser Problemlage ist es mehr als bedenklich, wenn in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik der Eindruck erweckt wird, die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention wäre mit der Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung geschafft. Weit gefehlt! Diese ist nur eine Komponente. Sie wird, weil am besten auch für Nichtbehinderte nachvollziehbar, ins "Schaufenster" gestellt. Die Protagonisten dieser Forderung verfügen auch über eine gehörige Medienkompetenz und die erforderliche Lautstärke. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass anderweitige, genauso drängende Probleme in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung in den Hintergrund geraten. Die eingangs geschilderten Notlagen darf es in der heutigen Zeit einfach nicht mehr geben. Es ist unserer Gesellschaft nicht würdig, dass Behördenvertreter massiv in das Leben von Menschen eingreifen4, die zur Recht von dieser Gesellschaft gesetzlich verbürgte Unterstützung erwarten.
Deutschland in "schlechter Verfassung"?
Im Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 unseres Grundgesetzes wurde festgelegt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Der Artikel 3 ist ein Grundrecht. Grundrechte werden im 3. Absatz des Artikels 1 GG wie folgt beschrieben: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht." Zur Anwendung des Artikels 3 GG schrieb das Bundesverfassungsgericht am 10.10.2014 (Az.: 1 BvR 856/13)"Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen."
Zusammen mit dem MMB e.V. und weiterer zwölf Vereine versuchen wir, diesen Beschluss in die Öffentlichkeit zu tragen und damit eine Diskussion über die Zulässigkeit des staatlichen Umgangs mit unseren Nachteilsausgleichen anzustoßen. Bislang treffen wir auf eine Mauer der Interessenlosigkeit, quer durch die Gesellschaft, egal ob Politik, Medien, selbst große Behindertenverbände zeigen totales und unerklärbares Desinteresse. Dies betrifft auch die Mehrzahl der Verbände und Vereine innerhalb von ForseA e.V.! Das einzige Gegenargument, das wir bisher zu hören bekamen, ist auch noch sachlich falsch: Dieses Urteil sei in einer ablehnenden Entscheidung gefallen. Daraus eine Abwertung der Ansicht des BVerfGE abzuleiten, ist jedoch nicht nur für Juristen erkennbar falsch. Warum es so schwer ist, die Ansicht des Gerichts unter das Volk zu tragen, bleibt ein Rätsel, noch umso mehr, dass Behindertenverbände diese Steilvorlage nicht aufgreifen.
Forderung nach einem fairen Teilhabegesetz
ForseA hat seine Forderungen an ein faires Teilhabegesetz in einem Text zusammengefasst. Darin wird auch dokumentiert, dass Gesetze und Grundrechte von staatlichen Stellen nach Gutsherrenart interpretiert werden. Hier herrscht noch das Armen-recht-Denken und der Fürsorgegedanke des letzten Jahrhunderts. Nicht mehr als nötig und so billig wie möglich. Die Sonne der Behindertenrechtskonvention hat die Amtsstuben noch nicht erhellt und auch die Regierung gibt sich ungeachtet vieler Veranstaltungen und Stellungnahmen der Verbände unwissend. Oder wie soll die erneute Verzögerung bei der Vorlage des Entwurfes für ein Teilhabegesetz verstanden werden. Man sucht nach Auswegen, die für eine ehrliche und faire Umsetzung der BRK jedoch zur Gänze versperrt sind.
Schützender Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention
Deutschland hat sich im Art. 4 BRK verpflichtet, bestehende Gesetze konventionskonform zu gestalten (Abs. 1b) und neue Gesetze nur dann in Kraft zu setzen, wenn diese der Konvention entsprechen (Abs. 1a). Zusätzlich versprach Deutschland, alle mit der BRK unvereinbaren Handlungen zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die Träger der öffentlichen Gewalt im Einklang mit dieser Konvention handeln (Abs. 1d). Auch die übrigen Bestimmungen des Artikels 4 enthalten noch weitgehende Zusagen. Angesichts dessen ist bereits die Versagung der Heizkosten bei der Berechnung des "zumutbaren Eigenanteiles" und die damit verbundene Erhöhung dieser Enteignung ungesetzlich. Aber vermutlich war es - wie so vieles andere auch - eine gezielte Austestung der Reaktionen in der Gesellschaft. Da diese Information nicht flächig verbreitet wurde und lediglich ein
Verein (NITSA) dagegen protestierte, wird der nächste Test vermutlich drastischer ausfallen.
Es muss was Deutliches geschehen!
Es macht den Anschein, dass man in der Bundesregierung noch grübelt, wie man nach sieben Jahren Vorarbeit im Frühjahr ein Minimalergebnis präsentieren kann. Schon werden Gerüchte gestreut, dass es die vollständige Freiheit von Einkommens- und Vermögensanrechnung nicht geben wird. Da man bislang für 12 Millionen jährliche Ersparnis durch die Einkommens- und Vermögensanrechnung 500 Millionen Euro ausgab, will man es wohl dahingehend toppen, dass man nur noch 3 Millionen einspart? In Kürze wird die Summe der seit dem 1.12.2011 verschwendeten Verwaltungskosten die Summe von 2.000.000.000 Euro überschreiten. Menschen mit Behinderung sind jedoch keine Arbeitsplatz erhaltenden Maßnahmen! In der öffentlichen Verwaltung herrscht gleichzeitig Personalnot, wie man an der Verwaltung der Flüchtlinge immer wieder erkennen kann. Hier könnte das Personal wesentlich sinnvoller eingesetzt werden. Aber in Wirklichkeit geht es gar nicht um betriebswirtschaftliche Argumente. Es geht einzig und allein darum, Bürgerinnen und Bürger vor der Wahrnehmung ihrer Rechte nachhaltig abzuschrecken. In Zeiten, in denen sich die Zivilgesellschaft zunehmend vom Staatswesen absetzt, könnten hier nachhaltige Signale gesetzt werden.
Menschen mit Behinderung – egal ob angeboren oder "erworben" – wurden mit gleichen Menschenrechten geboren wie alle anderen Nichtbehinderten auch. Erst dann, wenn sie der Gesellschaft eine "Last" zu werden drohen, dann werden behinderte Menschen ihrer Rechte – von Staats wegen (!) – beraubt. Das wäre jeder anderen Bevölkerungsgruppe gegenüber undenkbar. Politiker, die meinen, hier munter weiter diskriminieren zu können, müssen eines Besseren belehrt werden. Hier gibt es nichts mehr zu steuern, auf jeden Fall nichts mehr gegenzusteuern.
Hier müssen Versprechungen gegenüber der UN und dem eigenen Volk eingelöst werden. Die Werthaltigkeit dieser Versprechungen unserer Regierungen wird sich (vielleicht) im Frühjahr 2016 zeigen. Dann geht es nicht mehr um Versuchsballons, dann geht es für behinderte Menschen um ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, für die Bundesregierung nur um deren Glaubwürdigkeit.
Hollenbach, Silvester 2015
ForseA e.V.
Gerhard Bartz
Vorsitzender